zum Hauptinhalt

Kultur: Zwanzig für alle

Die Schriftstellerin Rita Kuczynski sprach im Einstein-Forum

Stand:

Die Schriftstellerin Rita Kuczynski sprach im Einstein-Forum Von Gerold Paul Dank von allen Seiten zu bekommen, ist eigentlich die Zierde jedes Autors. Was aber, wenn jeder mit seinem Ja das Gegenteil vom anderen meint? Rita Kuczynski, gelernte Pianistin, Philosophin und Ex-Schwiegertochter dessen, der 1983 in einen vielleicht etwas vorschnellen Dialog mit seinem Urenkel trat - Jürgen Kuczynski - weiß davon ein Lied zu singen. Die allgemeine Zustimmung auf ihre beiden Interview-Bücher „Die Rache der Ostdeutschen“ und „Im Westen was Neues“, beide erst kürzlich veröffentlicht, hat sie zugegebenermaßen überrascht, sahen „die Ostdeutschen“ doch darin, was sie schon immer ausdrücken wollten, aber nicht konnten, indes man westwärts die Larmoyanz und den Eigensinn der „Ossis“ bestätigt fand: die wollen doch gar nicht nach Deutschland, bravo, Rita! Nun war sie verwirrt, die sich beim Mauerbau 1961 zufällig in Ostberlin aufhielt und blieb, mit Thomas Kuczynski einen aus der „roten Ost-Aristokratie“ ehelichte, aber 17 Jahre vor der „Wende“ wieder „rüber“ ging (weil sie durfte), wo der Mauerfall sie ohne Erregung überfiel. Derart zwischen den Grenzen pendelnd, mit Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert gleichermaßen kokettierend, glaubte sie auch im Einstein-Forum verbindliche Aussagen über die Befindlichkeit der ach so anderen Ost-Leute machen zu können, mit möglicher Tendenz zur Versöhnung. Fünfzig etwa hörten der erklärten Hegel-Liebhaberin am Neuen Markte zu, Christa Ebert aus Frankfurt/Oder moderierte ein wenig. Die beiden Interview-Bücher, Befragungen, mit denen Rita Kuczynski herausfinden wollte, wie „die Ostdeutschen“ im Westen angekommen seien, erheben keinen Anspruch auf Signifikanz. „Die Rache der Ostdeutschen“ fasst Interviews von PDS-Wählern aus Ost-Berlin zusammen, um dem rätselhaften Wahlsieg dieser Partei 2001 (20 Prozent) auf die Spur zu kommen, wobei die clevere Befragerin Westberliner Stimmgeber sinnigerweise außen vor ließ. Ergebnis: Wer bis zur Wende noch kein „Ossi“ war, der wurde es spätestens nach 1995, als man nicht mehr den Einheits-Wirren schuld an der eigenen Misere geben konnte und das so laut schreiende Unrecht „dem Westen“ in die Schuhe schob. Die PDS nutzte das geschickt aus, und so kam es, dass man die 20 Prozent Ostberliner (oft Protest)Stimmen, auch durch übermäßige Medienhilfe, glatt für die „Stimme Ostdeutschlands“ hielt. Das sei bis heute so geblieben, mindestens 60 Prozent der „Ehemaligen“ hätten auch jetzt noch keine Fernseh-Präsenz. Entsprechend gäbe es zwei völlig getrennt laufenden „Diskurse“ zum Thema Deutschland, die sich nur bei Identifikationsthemen wie Ladenöffnungszeiten und Fußballereignissen berühren würden. Voraussetzung solch messerscharf-abstrakter Überlegungen bleibt natürlich die sture Existenz „der Ostdeutschen“ per se, was 13 Jahre nach der Wiedervereinigung eher unwahrscheinlich ist. Seit 1990 mischt sich das Volk doch rasant, was sie wohl übersah. Im zweiten Buch befragte sie ihr bekannte Akademikerkreise aus den fünf östlichen Bundesländern, alles keine PDS-Wähler, nach ihren Erfahrungen jenseits der DDR. Positive Antworten überall: Man lobte den Zuwachs an Freiheit und Lebensqualität, auch wenn nicht viele den Karrieresprung schafften. Die jetzige Staats- und Gesellschaftskrise zu bewältigen, sei die erste gemeinsame Chance der wiedervereinigten Deutschen, wobei die phantomhafte Gemeinde Ost aufgrund ihrer existentiellen Erfahrungen von 1989 einiges mehr einbringen könnte als die auf Wohlstandswachstum trainierten Westler. Wenig glaubhaft, die Geschicktesten haben sich doch längst (wieder) angepasst. Natürlich gab sich die heute etliche deutsche Zeitungen arbeitende Publizistin unabhängig und kritisch, aber wie es weitergehen würde, wusste sie so wenig, wie das Wort „Normalität“ zu erklären. In drei bis vier Generationen vermutlich sei das Problem gelöst – was einen Hörer zum Widerspruch trieb: Einander zuhören, miteinander arbeiten und leben kürzte das ab. Auch sonst diskutierte man rege. Nur worüber? Vielleicht über Hegel, welcher als erklärter Dialektiker die Einheit dem ewigen Widerspruch vorzog, Versöhnung anstrebte. Oder wie man z.B. mit drei thüringischen und drei Ostberliner Interviews ostdeutsche Gesamtdimensionen „befindlich“ extrapoliert. Denn was man im Einstein-Forum voller Staunen vernahm, beruhte, in beiden Büchern, auf nur 25 gefertigten und 20 gedruckten Befragungen. So kühn kann Wissenschaft sein. Sokrates hätte abgewinkt: Nur Meinungen! Auf dieses Signifikanz-Problem angesprochen, antwortete sie gut hegelisch: Ein bisschen Abstraktion muss schon sein! Eben, eben.

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })