Kultur: Zwei Kilometer Geschichte
Radio Eins Moderator Andreas Ulrich las bei Wist
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Radio Eins Moderator Andreas Ulrich las bei Wist Eine völlig unspektakuläre Straße sei die Swinemünder in der Mitte Berlins. Nicht weit vom Regierungsviertel, sagt Andreas Ulrich im Literaturladen Wist. Keine Szene-Kneipen, kein Club, keine U-Bahn-Station, aber gerade das fand der Radio- und Fernsehjournalist faszinierend. Fast zwei Kilometer lang, mit etwas mehr als 2000 Einwohnern, und wäre diese Straße im Herzen der Hauptstadt nicht geteilt gewesen, sie wäre wohl nicht der Stoff, über den man ein bemerkenswertes Buch mit 25 „Lebenslinien“ schreiben würde. Ulrich war fasziniert von dieser Straße mit den zwei Gesichtern, im Norden der Westen, im Süden der Osten. Er nahm sich vor, mit jungen Bewohnern zu reden und mit alten, mit Inländern und Ausländern, aus beiden Teilen. „Zwei Kilometer Deutschland“ (Verlag Das Neue Berlin) heißt es, und nicht „Zwei Kilometer Berlin“, denn schnell wurde dem Autor bei der Arbeit zu seinem schriftstellerischen Debüt klar, dass seine Ausgangsfrage, welche Rolle die Teilung im Leben der Anwohner gespielt hat, im Strudel der Geschichte untergehen musste. Geschichte, so lässt sie sich nach Ulrichs intensivem Leseabend definieren, ist als die Kraft zu verstehen, die mit manchmal unerbittlicher Härte wirklich jede Lebenslinie in einen unbedingt erzählenswerten Spannungsbogen umbiegt. Und diese mächtige Kraft wirkt bis weit über die Swinemünder Straße hinaus. Ulrich fand seine Gesprächspartner, indem er von Briefkasten zu Briefkasten ging, manchmal Tipps über interessante Schicksale bekam oder in der Trinkerkneipe „Linde“ einfach nur zuhörte. So konnte er Ilona Fichtner aufspüren, die mit ihrer Familie 1984 unerwartet Kaffeebesuch von Erich Honecker bekam und dadurch für kurze Zeit Berühmtheit erlangte. Der Grund des Besuchs: Fichtners wurden ausgewählt, die „zweimillionste Wohnung, die in Durchführung des Wohnungsbauprogramms, als Kernstück der Sozialpolitik der SED, seit 1971 fertig gestellt wurde“ – wie es eine am Haus angebrachte Gedenktafel verkündete – zu beziehen. Ulrich war wohl ein sehr guter Zuhörer. Bernd Schottka erzählte ihm, wie er mit seinem Kumpel Tommi als Zehnjähriger versuchte, von einem Dach in der Swinemünder rüber in den Westen zu kommen. Tommi sprang in das ausgebreitete Sprungtuch der Feuerwehr, Schottka selbst hatte zuviel Angst. Er kam darauf in ein Kinderheim. Als er wieder draußen war, hatte er „nur noch Haß auf das System“. Eine Architektin aus Baden-Württemberg, die ein Haus auf der östlichen Seite erworben hat, meint, die Ost-West-Unterschiede noch an der Art der Blicke und des Gehens erkennen zu können. „Wir aus dem Westen gehen langsam und haben einen offenen Blick.“ Der Ostler dagegen hetze mit gesenktem Blick (...)“. In diesem Teil der Straße hat sich die Bevölkerung gegenüber 1990 zu 95 Prozent ausgetauscht. Die Nähe zum Reichstag ist attraktiv für allein stehende Regierungsbeamte. Eine seltsame Verkehrung der Verhältnisse macht Ulrich daran aus. War der Westteil für viele im Osten Symbol für das, wonach man sich sehnte, sei der Ostteil der Swinemünder nun der vermögendere Teil. Im Westteil wohnten, so Ulrich, viele, die man heute „Modernisierungsverlierer“ nennt. Für die Beschreibung dieses Mikrokosmos“ hat Andreas Ulrich in England Verwandte von jüdischen Bewohnern der Straße aufgespürt, hat mit dem vietnamesischen Kaufmann geredet und einen türkischen Jungen gefragt. Ein bisschen wäre da so etwas wie eine Familie entstanden, die sich alle zur Buchpräsentation zum ersten Mal kennen gelernt haben. Bei einem Fest vor der Trinkerkneipe „Linde“ natürlich. Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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