Kultur: „Zwischen Einheit und Zweiheit“ Beatrice von Weizsäcker appelliert an Versöhnung
Die gelösten und ungelösten Fragen der Deutschen Einheit „zwanzig Jahre danach“ ziehen noch immer Publikum, wie die Lesung in der Landeszentrale für politische Bildung bewies. Dort ergriff am Mittwochabend Beatrice von Weizsäcker das Wort.
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Die gelösten und ungelösten Fragen der Deutschen Einheit „zwanzig Jahre danach“ ziehen noch immer Publikum, wie die Lesung in der Landeszentrale für politische Bildung bewies. Dort ergriff am Mittwochabend Beatrice von Weizsäcker das Wort. Die Münchner Autorin nennt die Einheit im Titel ihres Buches „Die Unvollendete“, glaubt Deutschland also derzeit „zwischen Einheit und Zweiheit“. Die äußere, staatliche, sei zwar vollzogen, aber fast reziprok dazu wüchsen Ressentiments, Verurteilungen, Missverständnisse und Gehässigkeiten zwischen West und Ost. Das Buch versucht, dies alles aufzuzeigen, gibt auch Empfehlungen, etwa miteinander, nicht gegeneinander zu reden und sich gefälligst zuzuhören, statt alles besser zu wissen. Für sie gehören alle ins Boot: Warum nicht ein Land mit vielen unterschiedlichen Biographien? „Wir sind das Volk, auf das es ankommt, und zu diesem Volk gehören alle ...“ schreibt sie im Kapitel „Trotzdem-Einheit“. Ja, hat man denn die letzten Jahrzehnte nur geschlafen?
Natürlich bleibt die Tochter von Richard Weizsäcker ihrer demokratischen Familientradition treu, natürlich bemüht sie Willy Brands Kniefall in Warschau und den Satz „Versöhnen statt Spalten“ von Johannes Rau. Demokratie ist Konsens, und daran glaubt die promovierte Juristin (Jahrgang 1958) genauso fest, wie an die Integerheit der politischen Klasse. Keinem würde sie „unterstellen“, die Vollendung der Einheit zu sabotieren. Im Vorwort geht sie hundertdreißig Jahre zurück, erklärt am Beispiel der Abspaltung West-Virginias im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, dass angeblich fünf Generationen nicht ausgereicht hätten, das Trauma der Spaltung im Inneren der Menschen zu tilgen. 2120, also hundertdreißig Jahre nach dem Einigungsdatum, „wird man kaum noch etwas wissen von der einstigen Teilung des Landes“, heißt es am Ende. Alles dazwischen ist demnach vorübergehend, im Wortsinne vorläufig: die Polemik gegen die politischen Anmaßungen des Birthler-Amtes, die unerfüllten Träume, das Ding mit den „blühenden Landschaften“, die vielen Versuche, mit Gespräche oder Kunstprojekten der deutschen Einheit innerlich näher zu kommen. Der Streit ums Einheitsdenkmal ist das Aktuellste. Mit Brecht könnte man also sagen, Beatrice von Weizsäcker beschriebe die „Mühen der Ebenen“.
So ziemlich alles und alle, was sich zum Thema Einheit/Zweiheit je zu Wort gemeldet hat, findet hier Asyl, die „Osthasser in Westmedien“, Wende- und Zonenkinder, spießige Dresdner und linke Gedanken, sogar manch schlechtes Gewissen. In der barmherzigen Tat Uwe Holmers, dem Asylgeber des Ehepaars Honecker 1990, sieht sie den ersten Versöhner, in Matthias Platzecks jüngstem Wink Richtung Linke den vorläufig letzten. Anders als mancher Politiker hält sich die Autorin an die Spielregeln: Sie glaubt, ohne den Bürger könne die Politik „wenig erreichen“, menschliche und politische Versöhnung sind in ihrem gut gemeinten Opus erstaunlich eng befreundet. Ein Blick auf die im Raum befindlichen Politiker-Karikaturen von Frank Hoppmann reichte freilich aus, in der angerufenen und öffentlich besungenen „deutschen Einigkeit“ eher ein Phantom zu erblicken.Gerold Paul
Beatrice von Weizsäcker, „Die Unvollendete. Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit“, Lübbe Verlag 2010
Gerold Paul
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