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Kultur: Zwischen Rock und Stiefeln

„Abgebrannt“: Über die Kolonie Alexandrowka

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Diese Frau hat schwer an ihrem Schicksal zu tragen. Früh wird sie zur Witwe, nachdem ihr Mann der Schwindsucht und wohl auch dem Alkohol erlegen ist. Ihre Kinder bringt sie mehr schlecht als recht durch, denn um dem Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie mit ihrem kleinen Wollhandel über Land fahren oder sich in Potsdam auf den Markt stellen. Zeit bleibt da keine, um sich um die fünf oft querköpfigen kleinen Geister zu kümmern. Einige gibt Wilhelmine in die Obhut des Militärwaisenhauses, um ihnen wenigstens etwas Bildung zukommen zu lassen. Doch der Leumund der Heranwachsenden ist nicht der Beste. Sohn Iwan muss sogar eine Zuchthausstrafe verbüßen, wegen „Unzucht mit Mannspersonen“, wie es im Urteil heißt. Seine wenigen Habseligkeiten, die dem Verführer in Frauenkleidern bleiben, gehen in Flammen auf. So wie die seiner Mutter. Denn als die Witwe Schischkoff mit 58 Jahren wieder zurück in die Russische Kolonie zieht, wird ihr eine brennende Kerze am offenen Fenster zum Verhängnis. Und nicht nur ihr.

In dem Buch „Abgebrannt. Zwischen Rock und Stiefeln – die Malaise des Johann Schischkoff“ zeichnet Autor Thomas Sander sehr einfühlsam ein familiäres Sittenbild der Kolonie Alexandrowka, wie es sich vor rund 150 Jahren zugetragen haben könnte. Bereits im vergangenen Jahr gab es im Museum Alexandrowka eine Ausstellung dazu, die durch computergenerierte Abbildungen des Museumsleiters Tim Esser auch optisch die Zeit authentisch widerspiegelte.

Die sind nun auch in dem Erzählband enthalten, der die Geschichte der Kolonie am Beispiel der Schischkoffs sehr einfühlsam beleuchtet. Wie fühlten sich die einstigen russischen Sänger und deren Nachkommen in ihrer neuen Heimat? Fassten sie wirklich Fuß? „Abgebrannt“ steht nicht nur für das in Flammen aufgegangene Kolonistenhaus Nr. 11, sondern auch für die prekäre finanzielle Situation. Das Buch erzählt über Kinderarbeit, scheinheilige Moral, Machtdünkel und stellt der oft romantisierenden Betrachtung des russischen Landlebens am Rande Potsdams eine weniger schillernde Facette entgegen. Dass die Beschreibungen des Autors nicht aus der Luft gegegriffen sind, beweisen der Anhang und die Fußnoten, die sich dokumentarisch durch die 194 Seiten ziehen. Thomas Sanders Fabulieren ließ aus dem dürren Aktenmaterial eine ergreifende menschliche Geschichte entstehen, die von den Nöten und Gefühlen, aber auch von der Kraft einfacher Leute berichtet. Heidi Jäger

„Abgebrannt“ von Thomas Sander, Tim Esser, herausgegeben vom Museum Alexandrowka, 12 €

Heidi JägerD

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