KulTOUR: „ etwas schief am Leben gebaut“
Ein gemütlicher Ringelnatz-Abend in der Beelitzer Posthalterei
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KulTOUREin gemütlicher Ringelnatz-Abend in der Beelitzer Posthalterei Beelitz - „Als ich noch ein Seepferdchen war, im vorigen Leben, wie war das wonnig, wunderbar unter Wasser zu schweben“. 1883 zu Wurzen geboren, wohlbehütet aufgewachsen, aber vom Königlichen Privatgymnasium verwiesen, schaffte Hans Bötticher sein „Reifezeugnis mit der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Militärdienst“ 1901 an einer Privatschule in Leipzig doch noch. Man sagte ihm freilich „Schulängste und infernalische Lausbubenstreiche“ nach. Seemann wollte er werden, und ging tatsächlich zur See, bis ein Augenleiden ihm das verlitt. Seine Doppelbegabung ermöglichte ihm das Dichten und Malen, seit 1919 nannte er sich dann Joachim Ringelnatz. Weit kam er als Schiffsjunge und Leichtmatrose durch die Welt, er strandete sogar auf Helgoland. Oder war es Kuttel Daddeldu? Wie immer auch, in Beelitz war dieser Mann „von seltsam abnormem Aussehen“ offenbar nicht. Dafür seine Werke, gelesen und dargestellt vergangenen Freitag in der Alten Posthalterei von Ohnsorg-Schauspieler Uwe-Detlef Jessen, zum Akkordeon vertont und besungen von Gisela Jachmann für etwa 20 dankbare Gäste in dr Posthalterei. Doch genügte es wirklich, über mehr als 90 Minuten Gedicht an Gedicht zu reihen, unterbrochen nur von klezmerisierend-kraftvollen Songs, deren einziges – La Paloma – nicht der Feder von Gisela Jachmann entsprang? War Ringelnatzens Leben denn nicht „etwas schief am Leben gebaut“, sein „Herz im Muschelkalk“ (wie er seine Frau Leonharda liebevoll nannte) gebannt? Er war zerbrechlich, für seine Freunde viel zu unpolitisch, musste noch als Hausdichter in Kathi Kobus“ Münchener „Simplizissimus-Kneipe“ lärmende, manchmal gar unlautere Blankverse schmieden, die niemand wahrnahm, während in dem letzten Lebensjahren der Unsinn immer mehr vor dem Tiefsinn wich. Von den Seinen als Poet und Brettl-Künstler hochgeschätzt, von Nazis unerwünscht, starb er 1934 an einer lange schwelenden Magen- und Lungen-TBC in Berlin. War er zuvor nicht doch noch in den Heilstätten? Mal nachblättern, bitte. Seine Sehnsucht blieb die Seefahrt, seine Liebe das Gedicht. Ringelnatz gehört zu den seltenen Erscheinungen, darin sich ein Wesen zur Gänze in seinem Werk manifestiert. Noch 1920 wurde er in Berlin „regelrecht ausgepfiffen“, erst vier Jahre später konnte er den Nimbus als Hanswurst und Suppenkasper abstreifen. Für ihn war „Wunderland“ überall, nichts, worauf er sich keinen Reim gemacht hätte: Schnürsenkel und Hockeyhölzer, Luftschiffe und Segler, sogar die Oderkrebse wurden bedacht. Zuerst aber schrieb er für die Naivität der Kleinen, wie es schon sein Vater getan. Doch was der Poet ihnen zurief und zugleich die gemütliche, dafür recht einförmige Veranstaltung charakterisierte, möchte man auch den Ausführenden zurufen: „Kinder, Ihr müsst Euch mehr zutraun!“ Nein, die vorab im Eilflug von Norbert Jachmann gegebene Überschau über diese Vita genügte dem Anspruch des Dichters so wenig wie die gelebten, mit Sinn und Herz gesprochenen Verse aus dem Innern von Jessen in Serie. Es braucht wohl mehr, einen solchen Windbeutel einzufangen, vielleicht mittels Auszügen aus seiner Autobiographie, eingestreuten Botschaften, Meldung von Freund oder Feind. Sonst ist es nur Text, nicht Leben, das immerzu nach Liebe sucht, in Mensch und Welt, in Versen und Figuren. Gerold Paul
Gerold Paul
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