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DasWAR’S: 300 Wörter und Weizenbier

Was Peter Könnicke bei 38 Grad denkt

Stand:

Mein erster Sommer war perfekt. 1970. Ich war noch kein Jahr alt und die Höchsttemperatur im Juli lag bei angenehmen 25 Grad. Wahrscheinlich lag ich entspannt im Kinderwagen und im Schatten deckte man mich sicherheitshalber mit einer luftigen Decke zu. Schließlich sollte ich nicht frieren.

16 Jahre später war es heiß. Im Juni 1986 hatten wir 30 Grad und ich schwitzte bei den Abschlussprüfungen der 10. Klasse. Im Deutschaufsatz schrieb ich über „Ein Menschenschicksal“ von Michail Scholochow. Ich weiß noch, dass mein Aufsatz nur etwas mehr als 300 Wörter hatte. Das war nicht viel, trotzdem hatte ich das Gefühl, alles geschrieben und richtig interpretiert zu haben, was der Autor uns über den Großen Vaterländischen Krieg sagen wollte. Meine Deutschlehrerin sah das zum Glück genauso. Mündlich musste ich in Astronomie und Physik ran. Ich sollte erklären, wie ein Geigerzähler funktioniert, was Halbwertzeit bedeutet und was die wichtigsten Etappen der Raumfahrt sind. Die Lehrer meinten es gut mit mir und es wurde ein schöner Sommer.

Auch im Sommer ’89 hab ich geschwitzt. Ich musste zur Armee. Ich kämpfte mehr gegen die Hitze als gegen den Klassenfeind. Bei 29 Grad im Schatten versuchten man uns noch immer was vom Kalten Krieg zu erzählen und wir lernten, wie man in drei Minuten eine Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbaut. In Prag und Budapest flüchteten die, die wir beschützen sollten, in die Botschaften der Imperialisten.

Nach der Wende dursteten unsere blühende Landschaften im Juli 1992 erstmals richtig doll. 35 Grad! Ich wohnte in einem kühlen Hinterhof in Berlin-Schöneberg und hatte in der „Malustra“, der Kneipe nebenan, Weizenbier mit Zitrone als idealen Durstlöscher des einstigen Klassenfeindes entdeckt. In die Kinos kam gerade „Otto, der Liebesfilm“ und der Deutsche aß in diesem Jahr 0,7 Liter Eis mehr als gewöhnlich – etwa acht Liter Eis insgesamt.

Vorgestern waren es 38 Grad: Ich bin in der heißesten Phase meines Lebens.

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