Potsdam-Mittelmark: 36 Küken und ein Hahn
Ilse Hahn war 42 Jahre Lehrerin in Werder (Havel) / Am Montag wird sie 80 Jahre alt
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Werder - Es gibt ehemalige Schüler, die behaupten, ihre Lehrerin Ilse Hahn hat sich um die Heimatgeschichte gekümmert, um nicht so viel über die sozialistische Weltrevolution referieren zu müssen. Ilse Hahn sagt es so: „Ich habe nie etwas gesagt, was mir gegen die Überzeugung ging.“ 42 Jahre war sie Lehrerin in Werder (Havel) – über Tausend sind es, die bei ihr die Schulbank gedrückt haben. Andere haben sie in Stadtrundgängen, heimathistorischen Vorträgen oder als profunde Ansprechpartnerin in Sachen Stadtgeschichte kennen gelernt. Am Montag wird Ilse Hahn 80 Jahre alt.
In Zoppot aufgewachsen, wollte sie eigentlich Journalistin werden. Doch Krieg und Nachkriegszeit wollten etwas anderes. Durch Kriegshilfsdienste in Krakow am See gelandet, fuhr im Februar 1945 kein Zug mehr zurück nach Danzig. Ihre Familie hatte sich aus Angst vor den Russen das Leben genommen. Ilse Hahn kam kurz vor Kriegsende bei einer Bekannten in Potsdam unter, ließ sich auch durch den Bombenangriff am 14. April nicht entmutigen, arbeitete als Sprechstundenhilfe und landete schließlich in Werder, als ihr die Arbeit verloren gegangen war.
Über einen Patienten kam sie zur Neulehrer-Ausbildung. „Als ich im Dezember 1945 im Rathaus Werder fragte, ob es eine Lehrerstelle gibt, hat mich der Bildungsdezernent umarmt: ,Sie hat der Weihnachtsmann persönlich geschickt.’“ Er brauchte dringend eine Lehrkraft.
Ilse Hahn erinnert sich gern an ihre frühe Lehrerzeit, wie an die Hausnummern der Inselstadt, die nach Bauzeitpunkt durchnummeriert waren. „Da fand sich keiner durch, bei Elternbesuchen habe ich mir die Kinder an die Inselbrücke bestellt.“ Oder an die Zeit, als im alten Gefängnisbau am Alten Rathaus ein Grundschulteil untergebracht war. Die beiden Etagen waren durch eine wacklige Holztreppe verbunden. „Die Kinder dichteten zum Lehrertag: ,Am Mühlenberg da steht ein Haus, da gehen Küken ein und aus. Wohl 36 und ein Hahn, der seine Küken lehren kann.’“ Bis heute sprechen die Werderaner vom „Hühnerhaus“.
Anfangs waren viele Eltern skeptisch gegen die Zugereiste. Manches Mal hörte sie Sätze wie diese aus dem Flur: „Was, die Hergelaufene will meine Kinder lernen?“ Das legte sich, von der zweiten Schülergeneration ist zu hören, welche Autorität Ilse Hahn in Werder hatte: „Bei der musst de still sein“, sagten die Eltern.
Nach einigen Jahren, in denen sie in verschiedenen Fächern einspringen musste, und vielen Weiterbildungsgängen, wurde der Heimatkunde-Unterricht bis 1961 ihr Hauptbetätigungsfeld. Seitdem unterrichtete sie Kunsterziehung und Deutsch, brachte auch hier ihre heimatkundlichen Kenntnisse unter. Sie erzählte den Schülern, dass die Bumbalücke auf der Insel nach den Gespenstern benannt ist, die hier am Kirchhof einst gespukt haben. Und die Schüler malten die Sage vom armen Schuster Michel, der einen Hochzeitsbraten stehlen wollte. Als der Koch ihn so vertrimmte, dass er starb, war es den Insulanern peinlich: Die Michaelisstraße erinnert daran.
Ilse Hahn machte sich auf Radtouren, in Archiven und in der Literatur über Werder schlau, konnte bei der Aussortierung vermeintlicher Nazi-Literatur manchen stadthistorischen Schatz retten. Sie arbeitete lange Jahre in der Fachkommission Heimatkunde für den Kreis Potsdam-Land, erstellte Unterrichtsmaterial für das Fach, dessen Verlust sie heute sehr bedauert. „Damit geht ein Stück Identifikation verloren.“
Ihr Wort hatte nicht nur in der Schule Gewicht: Als 1981 der Heimatverein gegründet wurde, war Ilse Hahn dabei. Und sie gehörte im selben Jahr zu den ersten, die offizielle Stadtführungen durch Werder durchführten. Heute ist sie in der Stadtführergilde Ehrenmitglied, hilft bei der Weiterbildung, publiziert in den Heimathistorischen Beiträgen, die der Heimatverein jährlich herausgibt. Einem Rätsel ist sie nicht auf die Spur gekommen, dem ersten Schulstandort auf der Insel. Nur die Adresse ist überliefert: Kirschstraße 112. Da ist es wieder, das Hausnummern-Problem – und kein Schüler, der sie von der Inselbrücke hinführen könnte.
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