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Für anonyme Bestattungen gibt es auf dem Südwestkirchhof zwei Gemeinschaftsanlagen.

© Olaf Ihlefeldt

Von Yvonne Jennerjahn: Abschied ohne Grabstein

Immer mehr Menschen lassen sich anonym bestatten / 2 700 wurden seit 1996 in Stahnsdorf beigesetzt

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Stahnsdorf - Einsam steht der Mann in schwarz im Regen. Mit gesenktem Kopf blickt er in ein Loch vor seinen Füßen. In den Händen hält er eine Urne. Er hält kurz inne, spricht ein Abschiedswort. Dann versenkt der Bestatter sie in der Erde. Er nimmt seine schwarze Schirmmütze ab und verbeugt sich noch leicht. Die Bestattung ist vorbei, das kleine Grab ohne Namen wird zugeschüttet: Es war die 212. anonyme Beisetzung im Gemeinschaftsgrab auf dem Stahnsdorfer Südwestkirchhof in diesem Jahr.

Die Tote war eine 78-jährige Frau aus Berlin, ledig, keine Angehörigen, keine Religionszugehörigkeit. Ihren Leichnam hatte sie einem anatomischen Institut zur Verfügung gestellt. Kein Grab wird an sie erinnern. Drei Urnen mit den Überresten Verstorbener hat der Bestatter an diesem Novembertag auf der anonymen Grabanlage beigesetzt. An keiner der Bestattungen haben Angehörige teilgenommen.

Immer häufiger werden Verstorbene so beigesetzt, ohne Grabstein, ohne Namen. „Das hat in den letzten Jahren massiv zugenommen“, erzählt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt. Vor 20 Jahren hätte das niemand für möglich gehalten, sagt er. Inzwischen würden auch Dorffriedhöfe und ländliche Kirchengemeinden anonym bestatten. Bundesweite Statistiken dazu gibt es nicht, doch die Berliner Zahlen sind deutlich: 9103 anonyme Beisetzungen gab es in der Bundeshauptstadt 1992, im vergangenen Jahr waren es 12 595. Der Anteil der namenlosen Bestattungen an den Begräbnissen ist im gleichen Zeitraum von 22,2 Prozent auf 41,4 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte der Berliner Toten bekommt kein klassisches Grab mehr.

Seit 1996 sind auch auf dem 100 Jahre alten Südwestkirchhof in Stahnsdorf, dem größten evangelischen Friedhof in Deutschland, anonyme Bestattungen möglich. Mehr als 2700 Tote sind seither in den beiden Gemeinschaftsanlagen meist ohne Namensnennung beigesetzt worden. An einem der Gräberfelder können die Namen der Toten auf Wunsch auf zwei Stelen vermerkt werden.

Beim Verzicht auf ein richtiges Grab spielen Geld und fehlende Informationen eine Rolle. „Die Leute denken, bei traditionellen Bestattungen geht unter 10 000 Euro gar nichts“, erzählt der Friedhofsverwalter. Also Urne und anonym, damit es nicht so teuer wird. Aber es gibt auch andere Gründe. Die „Grabpflegegeneration“ nennt Ihlefeldt die Menschen, die sich auf eigenen Wunsch so beerdigen lassen. Sie haben oft selbst jahrzehntelang die Gräber von Angehörigen gepflegt und wollen ihren Kindern nicht dasselbe zumuten. „Die alten Damen und Herren organisieren und entscheiden das selbst und fragen ihre Angehörigen gar nicht.“ Und sie tun ihren Kindern damit oft gar keinen Gefallen. „Die meisten Menschen wollen einen Platz haben, wo sie hingehen können“, sagt Ihlefeldt.

Das Bedürfnis nach einem Ort für die Trauer zeigt sich auf dem Südwestkirchhof auf ganz eigene Weise: „Die anonymen Plätze sind übersät mit Kerzen und Blumen“, erzählt der Friedhofsverwalter. Angehörige suchen die Stellen, an denen sie die Urnen ihrer Verstorbenen vermuten. Der Verwalter muss die Wiese regelmäßig freiräumen lassen, weil es eine anonyme Anlage ohne individuelle Akzente sein soll. Die Trauernden verstehen das nicht, bald stehen neue Blumen auf dem Rasen. Viele wollen ihre Toten dann doch wieder aus der Anonymität holen und in ein ordentliches Grab umbetten lassen, so Ihlefeldt. Das geht nicht, weil dann die Totenruhe der anderen gestört würde.

Auch die Kirche ist nicht glücklich mit den anonymen Beisetzungen. „Die Würde eines Menschen endet nicht mit dem Tod“, betont Friederike von Kirchbach, Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Und zur Würde zählten auch der Name und die Erinnerung als Zeichen der Einzigartigkeit jedes Menschen. Olaf Ihlefeldt sieht das ebenso, und er versucht Besucher in Gesprächen zu überzeugen. „Aber das gelingt selten.“ epd/PNN

Yvonne Jennerjahn

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