Potsdam-Mittelmark: „Alle kommen an und wollen arbeiten“
Flüchtlingsseelsorgerin Eva Kulla über das Arbeitsverbot für Asylsuchende, in Teltow und Stahnsdorf benötigte Hilfe, die Rolle des „Fremdlings“ in der Bibel und „Pegida“
Stand:
Frau Kulla, Sie sind seit 13 Jahren in der Flüchtlingsseelsorge für den Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf tätig. Wie hat Sie diese Arbeit geprägt?
Menschen aus aller Herren Länder habe ich kennengelernt mit ihren Geschichten von bitterer Armut, Verfolgung und Angst um ihr Leben, Menschen mit traumatischen Fluchterfahrungen. Sie kommen hierher in ein Land, in dem sie zwar äußerlich sicher sind. Das, was sie durch ihre Flucht erhofft hatten, nämlich Arbeit und eine Perspektive zu bekommen, tritt aber meistens nicht ein. Große Enttäuschungen bis zu Depressionen erlebt man da und hört immer wieder den Satz: „Wir hoffen nur noch für unsere Kinder.“ Mich hat das emotional unglaublich bewegt und tut es noch. Es ist mir so bewusst geworden, wie gut es uns geht, und daraus erwächst für mich auch das starke Gefühl, Verantwortung übernehmen zu müssen.
Mit welchen konkreten Erwartungen kommen die Flüchtlinge nach Teltow und Stahnsdorf?
Für die schwer an Leib und Leben Bedrohten steht der sichere Ort erst mal im Vordergrund. Aber alle kommen an und wollen arbeiten. Das ist die erste große furchtbare Enttäuschung und Frustration, dass sie das nicht dürfen. Diese langen, über Jahre andauernden Arbeitsverbote zermürben die Menschen. Das spricht sich nicht rum in der Welt, welche Gesetze da in Deutschland gelten. Das müssen die ersten, die ihnen begegnen, die Sozialarbeiter und die Berater, erst mal auffangen. Insofern ist es eine Schande, dass Menschen immer noch von der Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme sprechen. Nahezu alle Flüchtlinge, die ich in meiner Arbeit erlebe, wollen in dieser Gesellschaft Fuß fassen, und das geht nur über Deutsch lernen und arbeiten. Dass ihnen das so lange verwehrt wird, ist absurd.
Was macht das mit den Flüchtlingen?
Ich hatte einen bosnischen Klienten in Zehlendorf und der hat es kurz zusammengefasst, als er wegen der Bleiberechtsregelung nach vierzehn Jahren plötzlich eine Arbeit aufnehmen sollte: „Als ich hier nach Deutschland kam, war ich jung und gesund und wollte arbeiten, durfte aber 14 Jahre lang nicht. Und jetzt bin ich alt und krank, und soll meinen Lebensunterhalt vollständig verdienen.“ Selbst wenn der Asylantrag bearbeitet ist, bekommen ja viele nur eine nachrangige Aufenthaltserlaubnis. Das heißt, sie können zwar nicht mehr abgeschoben werden, dürfen aber immer noch nicht arbeiten. Die Menschen haben ja nicht nur den psychischen Druck, keine Aufgabe zu haben und nicht gebraucht zu werden, ihren Tag totschlagen zu müssen. Das wirkt sich auch körperlich aus, besonders signifikant sind die Rückenschmerzen, das Kreuz. Es schmerzt nicht von der Arbeit, sondern vom Nichtstun und der ständigen Traurigkeit. Wenn sie Glück haben, haben sie eine Familie, da gibt es dann ein Riesenengagement, um die Kinder zu fördern.
Ist denn ehrenamtliche Arbeit für die Flüchtlinge möglich?
Ja, es ist erlaubt und es gibt auch viele unter ihnen, die gern ehrenamtlich was machen. Ich habe immer wieder Flüchtlinge in Kirchengemeinden vermittelt, wo sie Grundstücksarbeiten oder ähnliches erledigen konnten. Durch die gemeinnützige Arbeit bekommen sie Kontakt in die Gesellschaft und die Sprache verbessert sich. Wenn ich jetzt eine Botschaft an die Leser senden darf: Jeder öffentliche Träger, jeder Verein, jede Kita kann ohne einen Euro eigene Kosten jemanden für 20 Stunden einstellen und für einfache Arbeiten einsetzen. Das ist eine Riesenhilfe.
Viele Flüchtlinge haben eine muslimischen Hintergrund, Sie kommen aus der Kirche. Welche Erfahrungen machen Sie damit?
Das hat mich schon in meinem Glauben verändert, dass ich mit vielen muslimischen Menschen in einer wunderbaren Weise Glaubensgespräche führen konnte. Ich wusste nicht, wie einfach das ist. Als ich eine schwere Erkrankung hatte, haben mehrere dieser Menschen gesagt: „Wir beten jetzt für sie.“ Als ich wieder da war, kamen sie und haben gesagt: „Es hat geholfen.“ Das hat mich gerührt und ich dachte: So einfach kann es zwischen Menschen verschiedener Religionen sein, wenn sie sich auf das wesentliche beziehen – dass unser Gott jeden Menschen als sein Geschöpf betrachtet und ihm seine Würde gibt und von uns erwartet, dass wir das untereinander auch tun.
Werden Sie gefragt, warum Sie diese Flüchtlingsarbeit machen?
Ja, und dann sage ich: Ganz einfach, ich bin Christin, für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Das zieht sich wie ein roter Faden durch beide Testamente und ist auch Thema der Weihnachtsgeschichte, dass der Fremdling zu den besonders Schutzbedürftigen gehört. Der gehörte nach dem mosaischen Kodex genauso zu den zu Schützenden wie die Kinder, Witwen und Waisen. Im Neuen Testament hat es im Matthäus-Evangelium seinen höchsten Ausdruck gefunden, als Jesus sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Da werden die Menschen auch danach geschieden, ob sie einen Fremden aufgenommen haben oder nicht. Ich gieße deshalb nicht über alles, was bei meiner Arbeit passiert, einen rosa Zuckerguss. Und ich rege mich auch mal über eine Roma-Gruppe auf, die alle Vorurteile bestätigt, gegen die wir ankämpfen. Aber aus meinem christlichen Auftrag heraus fühle ich mich frei und sicher bei der Flüchtlingsarbeit.
Gibt es aus den muslimischen Gemeinden heraus ähnliche Aktivitäten für die Flüchtlinge wie aus den beiden Kirchen?
Das ist weniger ausgeprägt, die Beratungsstruktur wird von den Wohlfahrtsverbänden wie Diakonie, Awo, DRK und Caritas dominiert. Ich weiß nicht, warum das im Islam in Deutschland weniger ausgeprägt ist, aber vielleicht liegt es an den langen Traditionen bei der Kirchenarbeit. Die christliche Wohlfahrtspflege besteht seit dem 18. Jahrhundert, die christlichen Kirchen haben hier seit Jahrhunderten ihren Glauben in Barmherzigkeit und Nächstenliebe umgesetzt.
In Teltow und Stahnsdorf, genauso in Potsdam und Ferch erlebt man, dass es erstaunlich viele Initiativen gibt, die hilfreich sein wollen. Die Stimmung ist nicht so schlecht in der Region. Wie empfinden sie die Willkommenskultur?
Das ist erst mal wunderschön, dass sich so viele einbringen wollen. Etwas problematisch ist, dass es sich um eine sehr spezielle ehrenamtliche Arbeit handelt. Es muss gut koordiniert werden, dass die Hilfe ankommt, wo sie gebraucht wird. Es gibt ganz viel gut gemeintes Engagement, Leute wollen zu Weihnachten eine Familie einladen. Das ist im Moment nicht das Wichtigste. Deswegen versuchen wir zum Beispiel in einem kleinen Koordinationskreis der Gemeinde in Stahnsdorf, die Hilfe aufeinander abzustimmen.
Was wird am dringendsten gebraucht?
Ganz dringend gesucht sind Sprachkenntnisse, über Englisch, Französisch und Russisch hinaus, und ganz wichtig sind Behördenbegleitungen, das setzt ein eigenes Fahrzeug voraus. Dann gibt es einen dringenen Bedarf an Fachärzten, die bereit sind, Flüchtlinge zu behandeln. Die Flüchtlinge bekommen keine Chipkarte, Sachbearbeiter im Sozialamt entscheiden, ob jemand krank genug ist, um behandelt zu werden. Wenn die Flüchtlinge dafür den Schein haben, ist es immer noch schwer, einen Facharzt zu finden. Die Stahnsdorfer Heimleitung vom Internationalen Bund kommt aus Berlin und ist darauf angewiesen, dass jetzt Menschen vor Ort, die sich auskennen, ihren Fachärzten, Psychiatern, Gynäkologen zureden, dass sie nächste Woche drei Termine für die Asylbewerber machen.
Wissen Sie, warum Flüchtlinge keine Chipkarte bekommen?
Unser Asylbewerberleistungsgesetz beinhaltet eine ganze Reihe unsinniger Erschwernisse, die übrigens auch richtig teuer werden können. Diese Arztscheine übers Sozialamt gibt es nur für Akutbehandlungen. Das heißt, Sachen werden verschleppt und nachher zehnmal teurer. Ein ganz einfaches Beispiel ist der kleine Loch im Zahn, aus dem nach einigen Wochen eine Wurzelbehandlung wird. Das ganze System soll die Rückkehrbereitschaft erhöhen und abschrecken.
Die medizinische Versorgung ist also aktuell ein wunder Punkt?
Nicht der einzige. In Stahnsdorf haben wir 50 Kinder von 150 Bewohnern, erst mal ohne Spiel und Beschäftigungsraum und ohne eine kinderbetreuende Person. Die Kinder toben von früh bis spät durch die leeren Flure, das einzig interessante ist, im Waschmaschinenraum an den Geräten rumzudrehen. Sie treiben alle zur Verzweiflung. Der Landkreis will da schnell aktiv werden und einen Raum einrichten, aber es müssten auch Fachleute zur Kinderbetreuung her. 19 sind im Grundschulalter, 14 im Kitaalter, wenn es in absehbarer Zeit keine Kita- und Schulplätze in ausreichender Zahl gibt, bleiben die im Haus.
Können die Familien die Betreuung nicht selber organisieren?
Manche Kinder aus ländlichen Gebieten wurden vom Dorf oder der Großfamilie erzogen, andere zu Hause. Pädagogische Betreuung nach deutschen Maßstäben kennen viele der Flüchtlinge nicht und können sie auch nicht selbst leisten. Sie sind in ethnischen Gruppen so was von unterschiedlich in ihrer Art, mit Kindern umzugehen, dass es nicht funktionieren kann. Die Kinder brauchen auch den Anschluss an das deutsche Alltagsleben. Da gibt es Ehrenamtliche, die Kinderbetreuung und Hausaufgabenhilfe angeboten haben. Aber nach meiner Auffassung ist es Aufgabe des Landkreises als Träger der Asylbewerberheime, da erst mal eine Grundlage zu schaffen. Ehrenamtlich kann das dann nur begleitet werden.
Was muss sich an der Flüchtlingspolitik in Deutschland und in Berlin-Brandenburg ändern?
Die gesetzlichen Grundlagen sind eher auf Abweisung als auf Annahme von Flüchtlingen ausgerichtet. Das Zuwanderungsgesetz, an dem lange gearbeitet wurde, heißt genau „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“. Dieser Geist der Begrenzung ist unausrottbar, den gibt es in ganz Europa. Alles will sich abschotten von der Welt, in der Menschen unter katastrophalen Bedingungen leben, die wir in Europa aber teilweise mit verursachen, wenn wir uns unsere Lebensweise und unseren Handel anschauen. Der Umbruch in der arabischen Welt hat Hunderttausende entwurzelt. Sie werden kommen unter Einsatz ihres Lebens, das müssen wir als Realität anerkennen, auch dass es so weitergehen wird. Da können wir Zeter und Mordio schreien und „Wir sind das Volk“. Oder wir richten uns realistisch darauf ein, was zu tun ist.
Aktuell demonstrieren in Dresden und anderen Städten Tausende gegen die „Islamisierung des Abendlandes“.
Angesichts von „Pegida“ schwillt mir der Hals, wie demütig manche Politiker reagieren und sagen, sie hätten die Sorgen der Menschen nicht ernst genommen. Wenn das blanke Ressentiment in Dresden umgedeutet wird als Sorge, mache ich da nicht mit. Die Politik hat die Aufgabe, den Leuten zu sagen, dass es ein Menschenrecht auf Flucht gibt. Inzwischen ist ja auch nachgewiesen, dass in Deutschland lebende Ausländer wesentlich mehr Steuern und Sozialabgaben zahlen, als sie an Sozialleistungen beziehen. Im Jahr 2012 betrug der Überschuss 22 Milliarden Euro. Etwas von der Belastung der Sozialkassen zu faseln, ist blanke, gefährliche Propaganda.
Das Gespräch führte Henry Klix
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