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Einfach, aber mit großer Wirkung: Volker Gerling auf Reisen.

© Susanne Schüle

KulTOUR: Auf seine Seele warten

Ein Kameramann läuft zu Fuß von Berlin nach Basel und bringt von seiner Reise ein Daumenkino mit

Stand:

Werder (Havel) - Unter allen Fortbewegungsarten ist das Selbergehen die natürlichste und beste. Das wusste nicht nur Georg Friedrich Seume bei seinem legendären „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Auch moderne Pilger christlichen Sinns und andere Wanderer auf ihren Wegen haben sich die Erkenntnis erlaufen, dass man sich dergestalt selber begegnet. Gehen ist die normale Langsamkeit des Menschen, alles andere führt von ihm weg.

Das hat auch Volker Gerling erfahren, als er im heißen Sommer 2003 mit Erlaubnis seiner schwangeren Freundin zu Fuß von Berlin nach Basel ging. Was ihm beim entschleunigten Vorwärtsgang durch die Republik so alles geschah, erzählte er am Samstagabend bild- und wortreich in der Werderaner „Comédie Soleil“. Ensemblemitglied Gerhard Gutberlet las dazu kurze Texte aus dem Reisetagebuch des Weitgelaufenen.

Im Rucksack hatte Gerling ein Zelt, und was man so zum billigsten Übernachten in der Landschaft braucht. Er machte schnell eine wichtige Erfahrung: Niemals schneller werden. Denn als er per Auto trampte, kam er völlig aus dem Rhythmus. „Mir war, als würde ich aus der Haut gefahren.“ Zwei Möglichkeiten zur Korrektur, entweder man läuft zurück, oder man wartet halt auf seine Seele, wie die Aborigines sagen. Fast drei Monate war der Kameraman, der an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ studierte, zu Fuß unterwegs, im Gepäck eine Ost-Spiegelreflexkamera, die 36 Bilder in zwölf Sekunden zu machen verstand. 1998 kam er auf die Idee, solche lebenden Bildfolgen als Daumenkino zu gestalten. Sie sollten ihn auf seiner Tour von Mai bis August größtenteils ernähren, denn Geld nahm der Pilgrim gar nicht erst mit. Eine Sammlung alter und aktueller Daumenkinos trug er als „Wanderausstellung“ auf seinem Bauchladen vor sich her, auch wenn es einsam über Stock und Stein ging.

Das Publikum in der gut besuchten „Comédie Soleil“ war von der Originalität der besonderen Walz sofort fasziniert, wie überall, denn Volker Gerling hat nicht nur viel und gut zu erzählen, er weiß auch, wie man eine Sache herüberbringt. Technisch gesehen blättert der Daumenkinograf einen gebundenen Fotostapel unter einer Videokamera durch, während ein Beamer die schwarzweiße Bildfolge an die Wand wirft. Fast wie damals, als die Bilder laufen lernten. Seine Kurzgeschichten sind zwar immer nur ein paar Sekunden lang, doch überzeugen sie alle, besonders dank der ausdrucksstarken Porträts.

Ein Abenteuer par excellence: Hier hat man ihn in die gute Stube eingeladen, dort übernachtete er auf einem Friedhof, in der Gießwasserwanne badend, am Vatertag traf er auf der Landstraße einen Karren voller Narren. Sein Fazit: „Die Welt besteht nicht aus Atomen, sondern aus aneinandergereihten Geschichten.“ So sah das der alte Perser Attar auch.

Ohne festes Dach, ohne Geld wochenlang unterwegs, im Irgendwo zeltend? Das geht, der Wanderer traf ja überall hilfs- und gesprächsbereite Mitmenschen, die er größtenteils auch fürs Daumenkino fotografieren durfte: den Alten am Rand von Berlin, ein junges Mädchen beim Abschneiden ihres Haares, zwei Burschen in totaler Anglerstarre, eine, die unbedingt ein „erotisches Daumenkino“ von sich brauchte. Kein Problem. alle Modelle erhielten eine Kopie. Ende August war Gerling am Ziel, wiedervereinigt mit seiner Freundin in Basel. Und der bewährten Erkentnis, dass erst Entschleunigung den Weg zu sich und der Seele frei macht – und zu den Mitmenschen auch. Zu seinem Nächsten, wo man ihn geradewegs trifft. Gerold Paul

Mehr über das Projekt unter www.daumenkinographie.de

Gerold Paul

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