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KulTOUR: Aus dem Hof des Gedächtnisses

Sehenswerte Theaterinszenierung zu Peter Huchels 106. Geburtstag

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Michendorf - Der Gemeindesaal zu Neu-Langerwisch, eine schmuck ausgebaute Scheune, liegt in Sichtweite des „hohen weißen Doppeldachhauses“, wo der Lyriker Peter Huchel bei den Großeltern seine Kindheit verbrachte. Auf der Wiese dazwischen muss auch die „Schilfwasserstelle“ sein, ein Nick begegnet ihm dort. In entgegengesetzter Richtung, noch jenseits der Bahn, findet man sein Wohnhaus, heute eine Gedenkstätte.

Zwischen Alt-Langerwisch und Wilhelmshorst spielt auch der weitaus größte Teil von Peter Hedas dokumentarischem Theaterstück „Keiner weiß das Geheimnis“, dem Dichter gewidmet und dank des Kulturbundes an seinem Geburtstag, dem 3. April, im Gemeindesaal aufgeführt; eine zweite folgte tags drauf. Denkbar einfach (also wirkungsvoll) war die Dramaturgie: Sigrid Daecke als Monica Huchel erzählt dem Publikum behufs originaler Dokumente aus dem bewegten Leben ihres Gatten, während dieser, meist vor einer weißen Leinwand stehend, eigene Verse deklamiert, sonst aber fast nie ins Geschehen, ins Geschehene eingreift.

Wer über dem politischen Teil seiner Vita bisher den dichterischen vernachlässigt hatte, kam endlich auf seine Kosten, denn der Schauspieler Guido Beirens deklamierte die Verse mit solcher Innerlichkeit, mit derartig elegischem Duktus, dass nie gehörte Klänge und Nuancen die gut zwanzig Zuschauer in ihren Bann zogen. In den Bann einer „Naturlyrik“, welcher Peter Huchel in den zwanziger Jahren nach intensiven Diskussionen mit Marxisten beinahe abgeschworen hätte. Zu dem aber, was heute, jenseits der Wiese, ein „Steakhouse“ ist, kehrte er gedanklich immer wieder zurück, zum Hof seines Gedächtnisses.

Ein Korbsessel auf dem Theaterpodest, Koffer, auf dem Boden verstreute Bücher gaben die Kulisse. Monica, seine Siebensachen in Koffern zusammenpackend, erzählte von den ersten Begegnungen, als er ihr ständig Verse ins Ohr zirzte, von seiner frühen Zeit in Freiburg, Paris und Wien: „Poesie hat kein anderes Thema als sich selbst“. Vom Dritten Reich: „Ich schweige, ich will nicht Zeuge sein“. Davon, wie sich Ost und West bemühten, den Chef-Redakteur von „Sinn und Form“ zu instrumentalisieren und wie er sich, mehr leidend als handelnd, dazu verhielt.

In der Zeit seiner erzwungenen Immigration las er viel, das Altes Testament, Pascal, Augustinus, von dem auch die Metapher von den inneren „Hallen des Gedächtnisses“ stammt: „Nicht wir rufen das Vergessene an, das Vergessene ruft uns an!“ Obwohl all die Lebens- und Leidensstationen des Paares in dieser Aufführung präsent waren, sorgte Guido Beirens durch seine besondere Vortragskunst für erste Bausteine einer inneren Huchel-Biographie, die noch geschrieben sein will. Höhepunkt der Darstellung war eine Simultanszene: Sigrid Daecke zitierte das ideologische Drohgewitter der Parteigetreuen, während er, zwischen Pathos und Angst, an der Rampe das Gedicht vom Maulbeerbaum vortrug, Holz seines Schutzes, seiner Bewahrung, zwei Knechte legten die Axt daran.

Nach neun Ausreiseanträgen und einer internationalen Kampagne wurde er, als verwundetes Tier, in die „Freiheit“ entlassen, darin er nie richtig ankam. Der Titel bezog sich auf „Hamlet“, dort blieb das letzte Wort ungesagt, und keiner kennt dies Geheimnis. Glanz und Stärke dieses Abends erwuchsen mal nicht aus der politischen Erfahrung, sondern ganz aus der Lyrik, aus dem Hof des Gedächtnisses.

Gerold Paul

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