Potsdam-Mittelmark: Bartleby, der Neinsager
„Ton und Kirschen“ mit Melville-Adaption
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Weite Wiesen fast bis zum Horizont, darüber ein großer Himmel. Wo die sanft geschwungene Landschaft zum Dorf hin grenzt, hatte man einst das alte Vorwerk gebaut, dort wohnte der Schäfer. Himmelwärts strebende Baumriesen zeugen vom Alter dieses wie verwunschen wirkenden Anwesens der Familie Kleine ganz am Rand von Neu-Langerwisch. Am Sonnabend war das Glindower Wandertheater „Ton und Kirschen“ hier wieder zu Gast, zum siebenten Male. Eben erst von einer Frankreich-Tournee zurückgekehrt, zeigten sie vor gut 200 Zuschauern ihre jüngste Produktion, nämlich „Bartleby, der Schreiber“ nach Herman Melville, dem Verfasser von „Moby Dick“. Ein ungeheurer Text, eine fast kongeniale Off-Inszenierung, in Geist und Regie von Margarete Biereye und David Johnston.
Lange vor Kafka, vor Beckett, erzählt der vielgereiste Melville (1819–1891) die Geschichte eines echten Verweigerers, eines, der zunehmend zu allem „Nein“ sagt, am Ende gar zu sich selbst. In der New Yorker Wall Street wird Bartleby als Schreiber in einer Anwaltskanzlei eingestellt, wo er, anders als seine Kollegen Nippers (Nelson Leon), Turky (David Johnston) und Ginger Nut (Victor Cuevas), durch Fleiß und eine schier unverständliche Bedürfnislosigkeit auffällt. Mit den höflichst gesprochenen Worten „Ich möchte heute lieber nicht“ verweigert er dem Anwalt und Ich-Erzähler (Rob Wyn Jones) wie aus dem Nichts alle Gefolgschaft. Ohne Begründung, da helfen auch Drohung und Zureden nicht. Natürlich regt das die Kollegen auf, man will ihn verprügeln, man demütigt ihn, vergebens. An so einem Stoizismus versagt jedes Mittel. Selbst der Umzug in ein neues Büro schüttelt den höflichen Jüngling nicht ab. Niemand kann ihn überwinden, nicht einmal das Gefängnis, wohin er ohne Vergehen kommt. Das ganze Leben eine Demut, das bringt jeden in Rage, eine solche Haltung ist man einfach nicht gewöhnt. Bestenfalls gute Christen könnten sich ihrer noch dunkel erinnern.
Eine ungeheure Herausforderung für das Publikum, natürlich auch für ein Theater wie Ton & Kirschen, welches in der Bearbeitung epischer Texte sehr erfahren ist. Gespielt wurde vor der Kulisse des Schäferhauses unter turmhohen Bäumen. Ein paar Blenden, Schreibtische für das Schreibpersonal, wunderbare Musikeinspielungen, zügige Umbauten. Und ein Geist, welcher den Nerv von Melvilles Erzählung mit überzeugender Bildsprache trifft. Zum Beispiel, wenn Bartleby mit seltsamer Sehnsucht „nach draußen“ während des Szenenumbaus dem großen Fenster quer über die Bühne folgt. Steif wie eine Puppe tut er nebelhaft nichts. Keine Aggression, keine Unhöflichkeit, Stefano Amori ist der König dieser poetischen Inszenierung. Alle anderen zappeln nur um ihn herum, unfähig, ihn zu „verändern“. Die Glindower haben sich gehütet, diese nebulöse Figur zu „erklären“. Das hätte die wichtigste Rezeptionsebene sofort abgetötet. Das Publikum sollte es genauso halten, auch wenn es schwerfällt.
Fazit: Solange es Theater gibt, lohnt sich das Neinsagen. Eine wunderbare Inszenierung, 100 Prozent Theater, 100 Prozent Kunst, mit Herzblut und Feuer gemacht, gespielt mit den unverwechselbar eigenen Mitteln des Glindower Off. Tiefgang ist drin, Slapstick, Be- und Entschleunigung. Gelobt, wer Theater nicht als „Unterhaltung“ versteht! Das Publikum jedenfalls war restlos begeistert. Und Nebel stieg ja schon auf ganz zuletzt, auf den Wiesen. Gerold Paul
Gerold Paul
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