KulTOUR: Beeindruckend, belebend, wahrhaftig
Bach-Musik in Caputh mit dem „Berliner Staats- und Domchor“ und der „Lautten Compagney“
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Schwielowsee - Johann Sebastian Bach lebt! Wer hätte das noch vermutet, wo man ihm doch in so vielen Kirchen seit Jahren geistliche Totenständchen singt. Dass es selbst dort noch anders geht, wo man auf theologische Art der Welt „ade“ sagt und den „süßen Tod“ erwartet, zeigten der „Berliner Staats- und Domchor“ mit der wohltemperierten „Lautten Compagney“ in einer grandiosen Aufführung der „Caputher Musiken“. Guter Besuch am Samstag in der Stüler-Kirche, als man Bachs „Geistliches Gesangbuch in achtzehn Szenen fürs Leben“ von 1736 (Mitherausgeber war der Kirchenmusiker Schemelli) darstellte.
Die instrumentale Besetzung war so sparsam wie effektiv, Martin Ripper (Blockflöten), Friederike Däublin (Gambe, Violone), Andreas Arend (Laute) und Mark Nordstrand an Orgel und Cembalo sorgten stets für einen warmen, gepflegten Klang, für Feinheit und Finesse. Volker Nietzke sang die Tenorparts dieser wundersamen Kompositionsfolge, die ja mit „Ich steh an deiner Krippen hier“ beginnt und mit „Komm süßer Tod“ am Ende sowohl die Passion als auch die innere Reifung des gläubigen Menschen bis zur Hingabe an Jesus Christus nachvollzieht. Dazwischen Parts des Suchens, Wartens, Zweifelns, wie das beim schwachen Menschengeschlecht halt üblich ist.
Das Besondere dieser gut einstündigen Darbietung lag sowohl in der musikalischen Gestaltung durch Kai-Uwe Jirka als auch im Versuch, den üblicherweise konzertanten Aufführungsstil durch szenische Gestaltungen aufzulösen. Christian Filips richtete dieses Opus für Caputh wahrlich raumgreifend ein, die Männerstimmen vorn auf der Empore, Auf- und Abgänge solistischer Stimmen durch den Hauptgang, Abgang der alerten Singeknaben auch mal durch eine Seitenpforte.
Schon zu Beginn eine Überraschung: Die Oboe verkündet das Motiv der Krippe, alle anderen Instrumente genauso, eines nach dem anderen. Der Chor gab dann ein rhythmisches Vocalise dazu, und schon hatte man die Stimmung! Den „Tag mit seinem Lichte“ sangen die Chorknaben mit zugehaltenen Augen, „Liebster Herr Jesu, wo bleibst du so lange“, von einem jungen Solisten vorgetragen, war von langen suchenden Unterbrechungen und großer Stille begleitet, super!
Auch musikalisch traute man sich etwas, strophenalternierende Stimmen, Respiratorisches zwischen Männer- und Knabenchor, Unterbrechung eines Chorals, um den Text als Rezitation fortzusetzen, ungewöhnliche Instrumental-Staccati, erstaunlich kühne Fermaten, Wechsel von Tempi und Stimmung innerhalb einer Szene. Nirgends war der übliche Klageton zu hören, Mut oder Stärke, wo sonst Tränen fließen sollen.
Tiefe entstand nicht durch Sentiment, sondern durch Tiefe, Kraft kam aus Kummer und Schmerz, mein Gott, was waren das für Dimensionen! Der musikalische wie der szenische Gestus waren von Leben getränkt, alles glaubhaft, alles authentisch, alles Gegenwart. Welche Stimmigkeit im Gesamtcorpus! Eine Wucht im Wortsinn der gregorianisch gestaltete Schluss-Choral „Komm süßer Tod“, so gewaltig und bezaubernd, dass ein langes Schweigen im Publikum folgte.
Beeindruckend, belebend, wahrhaftig, eindringend, mit Geist und Körper zu erfassen. Was für ein Erlebnis, für eine Dimension. Welche Kraft hier möglich ist, so dicht am alten Bach dran, und so weit entfernt von der tränenrührigen Aufführungspraxis heutiger Kirchenmusik. Wer sich da noch wunderte, bekam zu hören: „Da hätten Sie mal unsere Matthäuspassion in Leipzig hören sollen!“ Hoffentlich bald. Gerold Paul
Gerold Paul
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