DasWAR’S: Das Leben – eine Halbzeit
DasWAR’S Peter Könnicke hat ganz unerwartet eine Reise in die Vergangenheit gemacht Fünfundvierzig Minuten sind keine lange Zeit. In einer dreiviertel Stunde kann Jan Ullrich die Tour de France immer noch gewinnen, wenn er den letzten Anstieg einer Bergetappe schneller als alle anderen hochfährt.
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DasWAR’S Peter Könnicke hat ganz unerwartet eine Reise in die Vergangenheit gemacht Fünfundvierzig Minuten sind keine lange Zeit. In einer dreiviertel Stunde kann Jan Ullrich die Tour de France immer noch gewinnen, wenn er den letzten Anstieg einer Bergetappe schneller als alle anderen hochfährt. 45 Minuten haben mir einmal gereicht, um meinen Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit platzen zu lassen. Das war, als ich durch meine erste Führerscheinprüfung flog. Ich hatte das Blaulicht eines Krankenwagens nicht gesehen und bin weitergefahren. Am Donnerstag hat der SV Babelsberg 03 in den zweiten 45 Minuten eines Fußballspiels gegen Teltow drei Tore geschossen. Ich habe mir die Partie angesehen. Es war zwar nur ein Testspiel und es war klar, dass die Babelsberger gewinnen würden, weil sie zwei Klassen höher spielen als Teltow. Aber ich hatte Zeit und Lust und geregnet hat es auch nicht. Die zweite Halbzeit hatte gerade begonnen, als ein älterer Herr auf mich zukam. Er trug eine dunkle Brille und eine leere Rex-Pilsflasche in der Hand. „Dich kenn'' ich", rief er mir aus einiger Entfernung zu. „Könnicke!" Er meinte zweifellos mich. Es begann dieser Augenblick, in dem man in Sekundenbruchteilen Namen und Gesichter abruft. Als würde man einen rappelvollen Visitenkartenroller wie die Anzeige eines Glücksspielautomaten drehen und hoffen, dass er an der richtigen Stelle stehen bleibt. In meinem Kopf ratterte es, als mir der Mann die Hand gab und fragte: „Na, wie geht''s?" Es ging mir gut. Es war mein zweiter Urlaubstag, am Nachmittag hatte der Notfalldienst einen verstopften Abfluss in unserer Wohnung repariert und mich von der Sorge befreit, dass das ganze Klo rausgerissen wird. So konnte ich in aller Ruhe Tour de France gucken. "Ich kann nicht klagen", antwortete ich. „Bist ja Reporter geworden", sagte der Mann. Ich nickte. „Und wie geht''s Jan?" Ich fragte mich, woher er meinen Kollegen kennt. Die Glücksspielanzeige in meinem Kopf rotierte und mir wäre wohl schwindelig geworden, hätte der Mann nicht gesagt: „Grüß den Jan mal schön – von Herrn Böhme!" Da machte es Klick. Der Visitenkartenroller blieb stehen und zeigte an: Böhme, Erzieher im Sportschulinternat, netter Mensch, kennen gelernt 1986. Ich weiß nicht, wie viele Jahre er dort gearbeitet und wie viele Schüler er kommen und gehen sehen hat. Doch er scheint kaum jemanden vergessen zu haben, denn er fragte nach allen, mit denen ich damals meine Zeit verbrachte. Einer ist heute Anwalt, einer lebt in Leverkusen, einer sucht Arbeit. Einer ist geschieden. Und einer lebt nicht mehr. Die Halbzeit eines Fußballspiels hat gereicht, um das alles zu erzählen. 45 Minuten für 15 Jahre.
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