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Passanten im Gespräch vor einem zerstörten Geschäft am Tage nach der Pogromnacht in einem unbekannten Ort in Deutschland: Auch jüdisches Leben in Werder gab es nach dem Holocaust nicht mehr.

© ullstein bild

Von Henry Klix: Den Opfern ihre Namen zurückgeben

Zeitzeugen erinnerten sich an jüdisches Leben in Werder / Ossietzky- Schule initiiert Stolperstein-Projekt

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Werder (Havel) - „Es wurde gemunkelt und getuschelt. Wir haben uns gefragt, wo Hans-Peter geblieben ist. Und wir ahnten Schlimmes.“ So erinnert sich Horst Bredow an die Tage nach der Pogromnacht in der Mittelschule in Werder. Sein Klassenkamerad Hans-Peter Olschowski kam seit dem 10. November 1938 nicht mehr zum Unterricht. Den Textilladen in der Brandenburger Straße gaben seine Eltern auf, nachdem Nazischergen die Schaufenster zerstört hatten. Sein Vater, Kurt Olschowski, wurde für einen Monat im KZ Sachsenhausen inhaftiert und dann zur Zwangsarbeit bei der Eisenbahn verpflichtet. Hans-Peter Olschowski und seine Mutter Ruth Olschowski sollten den Holocaust nicht überleben.

Der Historiker Hartmuth Röhn berichtete am Dienstag bei einer Veranstaltung des Toleranzbündnisses Kurage im Hotel zur Insel vor etwa 30 Gästen über das Schicksal des jungen Hans-Peter Olschowskis, der – wie viele andere Werderaner Juden – von den Nationalsozialisten aus dem Leben gerissen wurde. Nicht nur Kurage will das Andenken dieser Menschen mit Stolpersteinen bewahren – Messingplatten, die vom Kölner Bildhauer Gunter Demnig in ganz Europa vor den letzten Wohnstätten der Naziopfer in den Gehweg eingelassen werden.

Schüler der Carl-von-Ossietzky-Schule wollen ab dem kommenden Schuljahr in einem Projekt zum jüdischen Leben und zum Schicksal der neun 20 bis 84 Jahre alten Werderaner recherchieren, die laut dem Gedenkbuch des Bundesarchivs aus Werder in Vernichtungslager deportiert wurden. Die Lehrerkonferenz traf diese Woche einen entsprechenden Beschluss. Das Schulprojekt war durch Bürgermeister Werner Große (CDU) angeregt worden. „Gerade in einer Zeit, in der die Stadtverordneten auf ihre Stasivergangenheit überprüft werden, sollten wir auch die frühere Vergangenheit nicht aus den Augen verlieren“, sagte Schul-Fachbereichsleiterin Manuela Saß.

Arik Rav-On, Europadirektor der jüdischen Dokumentationsstätte Yad Vashem, war am Montag eigens für den Projektstart angereist und berichtete über die israelischen Bemühungen, den Holocaust zu dokumentieren. Von den 6,2 Millionen ermordeten Juden seien erst die Namen von 3,3 Millionen in Yad Vashem erfasst. „Nach 70 Jahren ist unsere Aufgabe, den Opfern ihre Namen zurückzugeben, erst zur Hälfte erfüllt“, so Rav-On. Außerdem werde zu Menschen recherchiert, die jüdischen Mitbürgern geholfen haben, den Holocaust zu überleben – in Deutschland gibt es bislang 450 dieser „Gerechten unter den Völkern“. „Ich kenne die Deutschen und bin mir sicher, dass es mehr waren“, so Rav-On. Er appellierte eindringlich an die Lehrer, gemeinsam mit den Schülern in Werderaner Familien nach noch lebenden Zeitzeugen zu suchen, die über jüdische Opfer aber auch Überlebende und ihre Helfer berichten können.

Mit Hans-Peter Olschowski ist ein erstes jüdisches Schicksal aus Werder dokumentiert. Sein Schulfreund Günter Grothe hatte schon vor fünf Jahren um eine Stolperstein-Verlegung gebeten. Zu den Fakten des Historikers Röhn konnte der 87-jährige Horst Bredow einige Details ergänzen: Auf der Mittelschule sei die jüdische Herkunft Olschowskis nie ein Thema gewesen. „Es gab ein kameradschaftliches Verhältnis unter uns.“ Hans-Peter Olschowski hatte Bredow auch einmal in Beelitz besucht, wo er lebte. Ob er dort auch die jüdische Gemeinde besuchte, weiß Bredow nicht genau. In Werder gab es keine jüdische Gemeinde. Historiker Hartmuth Röhn schätzt die Zahl der hier ansässigen Juden zum Zeitpunkt des Machtantritts der Nazis auf 20 bis 25. Er glaubt, dass die Potsdamer Synagoge ihr geistliches Zentrum war.

Horst Bredow erlebte das Kriegende in amerikanischer Gefangenschaft, in Louisiana musste er Baumwolle pflücken, nach dem Krieg wurde er Sportlehrer und arbeitete bis zur Rente an der Potsdamer Sportschule als Erzieher. Währenddessen kam sein Schulkamerad Hans-Peter Olschowski wohl auf einem der Evakuierungstransporte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora im März oder April 1945 ums Leben, als sich die Amerikaner näherten. Der Todestag ist nicht mehr dokumentiert. Horst Bredow wäre dankbar für den Stolperstein für seinen Schulkameraden.

Auch ohne eigene Gemeinde war jüdisches Leben in Werder durchaus präsent, wie Zeitzeugen auf der Veranstaltung im Hotel zur Insel erzählten: So erinnerten sie sich an das jüdische Kaufhaus in der Torstraße, an die Juden, die in den Zernsee-Villen lebten, an ein jüdisches Restaurant direkt neben der Friedrichshöhe und an eine jüdische Frau, die in Werder versteckt wurde und später einen russischen Professor heiratete. Der Obst- und Gemüsegroßhändler Wilhelm Jonas hatte einigen seiner jüdischen Geschäftspartner geraten, die Flucht zu ergreifen. Wegen seines jüdisch klingenden Namens hatte Wilhelm Jonas selbst ein paar Repressalien zu erleiden, obwohl er deutschstämmig war, wie sein Sohn Horst Jonas erzählte. Er erinnerte auch an die jüdische Spedition Siegfried Rosenbaum, dessen Inhaber mit Jonas’ befreundet war und mit seiner Familie nach Argentinien flüchtete. Der Betrieb wurde „arisiert“ und zur „Spedition Fitzner“.

Der Name „Fitzner“ sollte zufällig auch in den Recherchen des Historikers Röhn auftauchen: Hans-Peters Vater Kurt Olschowski war bis 1934 Geschäftsführer eines Handelskontors im westpreußischen Schneidemühl, musste den Posten als Volljude aber aufgeben und wagte in Werder den fatalen Neuanfang. Er überlebte den Krieg in der Illegalität in Berlin, kehrte danach nach Werder zurück und übernahm hier nach dem Krieg die Geschäftsführung der Spedition Fitzner, die schließlich ins Volkseigentum überführt wurde. Olschowski heiratete nochmal und war von 1958 bis 1961 Bürgermeister von Werder.

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