Potsdam-Mittelmark: Der bespitzelte Professor
Erika Haenel referierte aus den Stasi-Akten ihres Mannes – dem einstigen Leiter der Ernährungsforscher
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Nuthetal - Dass die Stasi-Vergangenheit noch immer nicht überwunden ist, zeigte die dritte Lesung der Veranstaltungsreihe „Menschen in Diktaturen“ des Ortsvereins Bergholz-Rehbrücke. Etwa 100 Gäste wollten hören, was Vereinsvorsitzende Erika Haenel in den Stasiakten ihres verstorbenen Mannes gelesen hatte. Professor Helmut Haenel leitete von 1964 bis 1981 das Zentralinstitut für Ernährung Potsdam-Rehbrücke leitete. Erika Haenel gab am vergangenen Donnerstag ganz private Einsicht in die Machenschaften der Staatssicherheit, die dem parteilosem Institutsleiter nicht nur die Forschungsarbeit erschwerte.
Über 1000 Seiten musste Helmut Haenel 1992 bei seiner ersten Akteneinsicht lesen, verfasst von 17 inoffiziellen Mitarbeitern – den sogenannten IMs –, vorwiegend aus dem eigenen Institut. Der Direktor im Ruhestand hinterfragte noch vor seinem Tod 1993 Motive einiger seiner Spitzel. Teils bekam er sachliche Antworten, teils erkannte er das Bemühen der Informanten, keinen Schaden mit ihren Berichten anzurichten. „Warum ließen sich ganz normale Mitmenschen als IMs zu Spitzeltätigkeiten missbrauchen?“, fragt Erika Haenel. War es Erpressung, Überzeugung, erhofften sie sich Vorteile? War es Rache, Neid oder Geltungsbedürfnis? Die Motivation war vielgestaltig, mit Fantasie gespickte Berichte deshalb nicht selten aber umso brisanter, meint Erika Haenel. „Lügen hängen wie Pech am Menschen.“
Nach Jahren konnte Erika Haenel über einige Aktenauszüge voller Dummheit und Banalität lachen. Das darf aber nicht von der ernsten Gefahr der Zeit ablenken. „Mir ist heute klar, dass die wissenschaftliche Arbeit meines Mannes und des Instituts durch die ständige Konfrontation massiv behindert wurde. Als einziger Parteiloser unter den Direktoren der Akademieinstitute stand er immer unter Generalverdacht, feindliche Tätigkeit zu begehen.“ Ein Sachstandsbericht der Stasi von 1976 bescheinigt dem Professor „dass H. zum Personenkreis gehört, der als potenzielle Zielgruppe des Gegners angesehen werden muss. Aus diesem Grunde wird vorgeschlagen, den Prof. H. in einer OPK-Sicherung zu bearbeiten.“ Argwöhnisch wurde seine Reisetätigkeit in das „kapitalistische Wirtschaftsgebiet“ überwacht, Post kam im Institut zeitweilig nie zum wirklichen Empfänger. Telefon- und Wohngebietsüberwachung gehörten dazu wie auch die „Aufklärung aus dem Intimbereich“. Selbst wegen seiner Teilnahme an der beliebten Radiosendung „7 bis 10 Sonntagmorgen in Spree-Athen“ 1969 zum Thema Ernährung machten sich die Parteioberen und die Stasi reichlich Sorgen um die „politische Wirksamkeit“. Dabei hatte Professor Haenel gerade erst den Orden „Banner der Arbeit“ erhalten. In der Auswertung wurde die Sendung als „unter dem Niveau der Akademie der Wissenschaften“ eingeschätzt. Jedoch erhielt der Sender 1200 Hörerzuschriften und selbst Anrufe aus der Leitung der betreffenden Akademie, die Genaueres zum Thema wissen wollten.
Später verlegte sich die Stasi auf die „Herausarbeitung von Pflichtverletzungen“ in Haenels Führungsposition, um ihn absetzen zu können. Haenel kämpfte gegen massive Reiseeinschränkungen der Mitarbeiter zu Kongressen, lehnte Losungen am Institut zum 1. Mai ab. Die Stasi wirft ihm „Stimmungsmache“ vor. 1966 wird einer Delegation die Reise zum Welternährungskongress nach Hamburg verwehrt, weil das Treffen unter Schirmherrschaft von Bundespräsidenten Lübke stand. Haenels Spitzel berichteten, er habe beklagt, dass der Sport vor der Wissenschaft rangiere. Er soll gesagt haben: „Am besten wäre, wenn das Institut eine Fußballmannschaft aufmacht, dann kann die nach Westdeutschland reisen, egal ob sie dort 20:0 verliert.“ Mit penetranter Gründlichkeit wurden private Feiern überwacht. Aus den Akten: „...Vorbereitung und Einleitung von Maßnahmen zur inoffiziellen und offiziellen sowie operativ-organisatorischen Sicherung der 60. Geburtstagsfeier von Prof. H. ...“ 1971 beklagt die SED-Grundorganisation Haenels fehlenden Klassenstandpunkt. „Stattdessen neigt er zu diplomatischen Lösungen und zu Versöhnlertum. Ursache hierfür ist sein kleinbürgerliches Denken, obwohl er sich um sozialistisches Wissen bemüht.“
Resigniert steht im Situationsbericht der Stasi von 1978, nachdem Haenel weitere vier Jahre als Institutsleiter gewirkt hatte: „Er wird weiter bestrebt sein, seine Stellung als Lebensmittel- und Ernährungsspezialist national und international zu halten und weiterhin versuchen, den Ernährungsminister zu spielen.“
1990, nach der politischen Wende, wurde Helmut Haenel aus dem Ruhestand zurückgeholt. Er hatte entscheidenden Anteil daran, dass das Ernährungsinstitut der DDR trotz einiger Widerstände nicht abgewickelt wurde. Am 1. Januar 1992 wurde das Deutsche Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke als Stiftung des öffentlichen Rechts neu gegründet.
Auch andere ehemalige Institutsmitarbeiter gaben sich an diesem Abend als Stasi-Opfer zu erkennen. Friedrich-Karl Grütte, langjähriger Mitarbeiter und Freund von Professor Haenel und in den 90er Jahren Bürgermeister in Caputh, erzählte, dass die Stasi sein Leben nachhaltig beeinflusste. Sein Fehler war es, sich 1953 politisch zu engagieren. „Ich bin praktisch geköpft worden“, reflektiert er heute. Helmut Haenel hatte sich lange Zeit für Grüttes Professur eingesetzt. Doch eindeutig wurde ihm signalisiert: „Grütte wird nie Professor.“
Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hatte jüngst in einer Talksendung gemeint: „Macht die Stasiakten zu, vergiftet euch damit nicht das Leben.“ Erika Haenel indes mahnt, das Thema nicht zu begraben. Im Vorfeld der Veranstaltung sind im Rahmen des Beratungsangebotes von Mitarbeitern der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Außenstelle Potsdam, mehrere Anträge von Bürgern auf Akteneinsicht entgegengenommen worden. Das Informationsinteresse ist weiterhin sehr groß.
Ute Kaupke
Ute Kaupke
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