Potsdam-Mittelmark: Der vierte Mann
Mitternachtsschwimmen in den Kiebitzbergen – eine Geschichte zum Jahreswechsel, wie sie wahrscheinlich nie stattfinden würde
Stand:
Mitternachtsschwimmen in den Kiebitzbergen – eine Geschichte zum Jahreswechsel, wie sie wahrscheinlich nie stattfinden würde Kennen Sie ein Hotel in der Nähe?“, fragte Stadler den Mann vom Abschleppdienst, der gerade an seinem Auto festgestellt hatte, dass „die Benzinpumpe im Arsch is“. Der Mann nickte: „Ick kann“se da och absetzen, wenn“se wollen.“ Zwei Drinks aus der Minibar und eine warme Dusche später hatte Stadler den Ärger über den ungewollten Zwischenstopp verdaut. Er hatte keine Ahnung, wo genau er hier war. Und obwohl er müde war, entschied er sich für einen kleinen Spaziergang. Der Weg vom Hotel führte durch eine kleine Siedlung, die im spärlichen Licht der Straßenlaternen schlief. Das Ende der Straße jedoch war hell erleuchtet und je näher Stadler kam, desto deutlicher erkannte er vier hohe Masten, an denen mehrere Scheinwerfer hingen. Plötzlich stand Stadler vor einem Tor: „Freibad Kiebitzberge“. Das Tor war offen. Stadler ging weiter, das Licht blendete ihn und er nahm die Umrisse einen Mannes wahr, der am Rand des Schwimmbeckens kniete. Vorsichtig näherte sich Stadler dem Mann, als der sich plötzlich umdrehte, die Hand gegen das Scheinwerferlicht hielt und Stadler musterte. „Sind sie der vierte Mann?“ Stadler sah sich um. „Nein, ich bin allein,“ sagte er. Der Mann stieß eine kleine Spitzhacke in die dünne Eisdecke, die sich über das Wasser gelegt hatte. „Es wird bald losgehen", sagte er, „gleich werden sie alle kommen.“ Stadler begann zu frieren. „Was wird losgehen? Wer wird kommen?“ „Na das Wettschwimmen“, antwortete der Mann, „dafür sind sie doch hier. Sie kommen doch aus Hamburg, oder?“ „Ja, ja“, stammelte Stadler, „aber “ Zu mehr kam er nicht. Der Mann hatte ihn einfach stehen gelassen. Es war zwei Stunden vor Mitternacht. Eigentlich wollte Stadler am Neujahrsmorgen zuhause sein, hätte ihn nicht der verfluchte Wagen im Stich gelassen. Nun stand er in einem heruntergekommenen Schwimmbad und musste mit ansehen, wie ein Mann mit einem Eispickel auf einem zugefrorenen Pool herumkrazte. Er beschloss, zurück ins Hotel zu gehen. An der Bar am Ende der Empfangshalle saß ein Pärchen, in dem großen Saal feierte eine geschlossene Gesellschaft ihre Silvesterparty. Stadler war nach einem Drink. Er kletterte auf einen der Barhocker. Neben ihm hingen ein paar Zeitungen, er registrierte flüchtig die Titel und las plötzlich: „Feuchtfröhlicher Jahreswechsel - Wettschwimmen im Freibad". Stadler nahm die Zeitung vom Haken und begann zu lesen. Es klang wie in einer der Geschichten, die er ab und zu seinen Kindern vorlas. * * * Es waren einmal drei Dörfer. Eines Tages sagten sich die Menschen dort: Ein Schwimmbad, das hätten wir gern, das wäre eine feine Sache. Also packten sie alle mit an und bauten ein Schwimmbad. Die Jahre gingen und neue Leute kamen ins Land: Ungläubige und Nichtschwimmer, Taugenichtse und Glücksritter, Mondsüchtige und Sonnenanbeter, Taucher und Golfer, Gelehrte und Geleimte, Verrückte und Verzückte, Christdemokraten und andere Heilsbringer. Neue Häuser und Ratssäle wurden gebaut, Straßen wurden so breit, dass drei Autos nebeneinander fahren konnte. Das Geld bekam Flügel und Kläranlagen goldene Türklinken. Dem Schwimmbad aber sollte das Wasser genügen, das es füllte. Das ging so lange gut, bis die Kacheln des Schwimmbeckens begannen, von der Wand zu fallen und kleinen Kindern Löcher in den Kopf schlugen. Da wurden die alten Baumeister des Bades ganz traurig und riefen den drei Dörfern zu: Bewahrt des Gute in Euch! Doch es begann ein bitterer Streit. Viele Jahre wurde gestritten, wem das Schwimmbad gehört und wer das Geld für neue Kacheln aufbringen soll. „Sagt, wie ihr es machen wollt?“, sagten die einen. „Das hängt davon ab, ob ihr mitmacht“, antworteten die anderen. „Ich hab zuerst gefragt“, reklamierte der Bürgermeister aus dem einen Dorf. „Meine Frage ist wichtiger“, befand der andere. „Wir können es nur gemeinsam schaffen“, riefen sie alle drei. „So einfach ist das nicht", meinte jeder einzelne. So ging es hin und her. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann streiten sie noch heute. * * * Hätten es damals bei den Märchenerzählern schon Fernsehen gegeben, wäre so manches Ende anders verlaufen, dachte Stadler. Denn das Fernsehen war Schuld an dem, was heute Nacht in den Kiebitzbergen passieren sollte. Jemand hatte bei der Fernsehsendung „Es brennt“ angerufen und alarmiert, das Schwimmbad fällt zusammen, wenn nicht bald was passiert. Daraufhin kam ein Kamerateam und filmte alles: Badegäste, Bademeister, Badelatschen. Sogar unter Wasser wurde gedreht. Schließlich wurden die drei Bürgermeister interviewt und vor laufender Kamera gaben sie ein überzeugendes Bekenntnis ab. „Ich liebe dieses Bad“, schwärmte der eine. „Ich bin quasi im Wasser groß geworden,“ erinnerte sich der andere. „Hier bin ich zum ersten Mal vom Drei-Meter-Brett gesprungen“, jubelte Teltows Bürgermeister Schmidt. „Ha, vom Dreier“, paffte ihm der Stahnsdorfer Bürgermeister Enser entgegen, „höher sind sie wohl nicht gekommen. Ihnen schwimm ich noch locker weg.“ „Klar, ihnen steht das Wasser ja auch bis zum Hals“, schnaufte Schmidt zurück. „Ich mach euch beide nass“, schrie Kleinmachnows Bürgermeister Blasig. Dann war Stille. Der Kameramann hatte einen hochroten Kopf und der Reporter flüsterte ihm aufgeregt zu, er soll ja draufbleiben. „Okay“, meinte schließlich Enser, „wir klären die Sache ein für alle mal. Direkt vor Ort“. Und so verabredeten sie für die Silvesternacht ein Wettschwimmen. Wer verliert, zahlt zwei Drittel der Sanierungskosten, der Zweite den Rest. „Wer gewinnt, geht leer aus. Das ist ein historischer Deal“, blickte Enser zufrieden. Stadler faltete die Zeitung zusammen und bestellte noch einen Wodka auf Eis. Die Festgesellschaft nebenan feierte müde Mitternacht entgegen. Es waren noch 45 Minuten Zeit. Irgend etwas trieb Stadler, noch einmal loszugehen. Er war neugierig. Er wollte wissen, wie die drei Bürgermeister aussahen. Und wieso sollte er der vierte Mann sein? Die Siedlung vor dem Hotel war inzwischen hellwach. Autos parkten auf der Straße, Männer und Frauen gingen mit ihren Kindern an der Hand Richtung Badeanstalt. Manche trugen Papierfähnchen, auf denen Ortswappen abgebildet waren. Eine aufgebrachte Frau stand vor ihrem Haus und schrie: „Das ist Ruhestörung. Ich zeige sie an. Ich kenne Sie alle.“ Übers Freibadgelände hallte es durch Lautsprecher „... pack die Badehose ein“. Hunderte Menschen säumten das Schwimmbecken. An einem Kiosk wurde Glühwein verkauft. Der Preis von zwei Euro war durchgestrichen. Inzwischen kostete der Becher drei Euro. Am Drei-Meter-Turm hing ein Transparent: „Wer zu hoch hinaus will, fällt tief!“ Quer über das Schwimmbecken war ein weißes Banner gespannt, auf dem in dicken schwarzen Buchstaben geschrieben stand: „Ob zu Land, zu Luft oder zur See – Enser, Sie sind unsere Armee!“ Vom Lärm und den vielen Menschen überrascht stand Stadler noch am Eingang, als ihm der Mann mit dem Eispickel am Ärmel zupfte. „Heh, da sind sie ja. Jetzt müssen sie sich aber sputen. Da geht''s lang.“ Er führte Stadler am Schwimmbecken vorbei in eine Baracke, die sich als Umkleidekabine erwies. „Aah, das ist wohl unser Geschäftsmann?“ Ein Mann in einem Bademantel kam auf Stadler zu und reckte ihm die Hand entgegen: „ Schmidt, Teltows Bürgermeister.“ „Stadler, Vertreter für ...“ „Ha, traut sich der feine Herr Investor nicht selbst, dass er einen Vertreter schickt. Will wohl nicht baden gehn, der Herr Investor, he“, stichelte Schmidt. „Wieso baden gehen?“, fragte Stadler, bekam aber keine Antwort, weil in diesem Augenblick die Tür aufging und Stahnsdorf Bürgermeister hereinkam. Im Neoprenanzug. „Das ist unfair“, stürzte Blasig aus der Umkleidekabine Enser entgegen. „Das ist Betrug.“ „Was ist denn das?“, fragte Schmidt verunsichert und tippte vorsichtig gegen Ensers Gummihaut. Enser grinste: „Das ist Neopren und verhilft mir zu mehr Auftrieb.“ „Ausziehen!", schrie Blasig, „sofort ausziehen. Oder ich mach'' nicht mit!“ „Also geben Sie auf“, frohlockte Enser. „Niemals, nie!“ „Keine Panik“, beschwichtigte der Mann mit dem Eispickel, den Stadler inzwischen als Bademeister ausgemacht hatte. „Nebenan in der Tauchschule hängen jede Menge von diesen Dingern. Jeder kriegt einen. Sie auch“, sagte er zu Stadler. Es war kurz vor Zwölf als Stadler neben den drei Bürgermeistern vor einem Startblock stand und der „Es brennt“-Reporter eine Ansage machte. Er stellte Stadler als Vertreter des Hamburger Investors vor, der Mitte des Jahres angeboten hatte, das Bad zu übernehmen. Sein Angebot, es für einen symbolischen Euro zu kaufen hatte mächtig Wellen geschlagen. Die Ur-Väter des Bades sahen, wie nach 30 Jahre einfach der Stöpsel gezogen, das Wasser abgelassen und stattdessen eine Wellness-Oase gebaut werden sollte. „Lieber im Ost-Pool baden gehen, als im West-Geld ertrinken“, riefen sie Stadler jetzt zu. Und: „Die Geier warten schon!“ Von all dem hatte Stadler keine Ahnung, als man ihn als „Die hanseatische Alternative“ vorstellte. Wie Kampfschwimmer bewegten sich die Männer in ihren Neoprenanzügen auf die Startblöcke zu. Unsicher blieb Stadler stehen. Blasig zischte ihn von der Seite an: „Wieso sind Sie überhaupt hier? Haben Sie meine Nachricht nicht erhalten?“ „Welche Nachricht?“, fragte Stadler. Der „Es brennt“-Mann schrie: „Auf die Plätze!“ Dann fiel ein Schuss. * * * Am Neujahrsmorgen fragte das „Es brennt“-Team die drei Bürgermeister, was sie zum „Patt im Schwimmbad“ meinen. Schmidt fand, das sei gerecht. Blasig verlangte nach einer Revanche, weil ihn der Neoprenanzug behindert habe. „Von mir aus“, sagte Enser. „In einem Jahr, gleiche Stelle, gleiche Welle.“ Zur gleichen Zeit saß Václav Stadler, noch immer mit leicht blauen Lippen, in der Lobby seines Hotels. Der Vertreter für böhmisches Glas und Kristall schrieb eine e-Mail nach Hause: „Ein gesundes neues Jahr, Ihr Lieben. Hatte auf der Rückfahrt von Hamburg eine Panne. Komme morgen. Euer Václav. PS: Hätte gestern beinahe ein Schwimmbad gewonnen.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: