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Potsdam-Mittelmark: Die Anzeige

In der Tee-und Wärmestube Glindow sollen Ratten sein. Bestätigt hat sich der Verdacht bisher nicht, aber ein kleines Wunder hat er bewirkt. Nichts, was die Welt verändern wird, aber vielleicht die Menschen der Tee- und Wärmestube

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Werder · Glindow - Sie ärgern sich. Darum sind sie hier. Vier Männer, acht Frauen. Zwischen ihnen die Kinder: zwei Mädchen und ein Baby auf dem Arm seiner Mutter. Von der Straße aus sind sie nicht zu sehen. Bäume verdecken den Blick auf das graue Haus, das mit hellen Flecken übersät ist, überall dort, wo der Putz abplatzt. Davor stehen die Menschen und warten auf Martina Müller, die Chefin der Tee- und Wärmestube Glindow. Ihrer Tee- und Wärmestube. Und da sollen nun die Ratten sein, sagen „die“.

„Die“, das sind auch die Mitarbeiter vom Hygieneamt. Sie haben gesagt, dass Martina Müller in der Tee- und Wärmestube kein Essen mehr verteilen darf. Denn jemand hat dem Amt gemeldet, dass in der Teestube Ratten herumlaufen. Aber Ratten hat hier noch niemand gesehen. Und in den Fallen, die der Kammerjäger vor ein paar Tagen aufgestellt hat, sind bisher nur Schnecken gestorben.

Drei große Tische stehen in dem kleinen Zimmer. Sie lassen kaum Raum für die Stühle ringsherum. Die Möbel sind Spenden von Nachbarn und Firmen aus der Umgebung, wurden schon zigmal geklebt. Auf jedem Tisch liegt ein anders gemustertes Wachstuch. In deren Mitte stehen kleine Tabletts mit Pfeffer- und Salz-Streuern – kleine Fliegenpilze mit Löchern im Hut. Daneben wachsen gelbe Kunststoffrosen aus grünen Keramiktöpfen. Lucie, Iris , Michaela und die anderen Frauen und Männer sitzen hier zwei bis drei Mal pro Woche. Es gibt dann Kaffee und Kuchen, den Bäcker Gartenschläger von nebenan geschenkt hat.

Kuchen steht auch jetzt auf den Tischen. Aber trotzdem ist alles anders als sonst. Es muss etwas passieren. Alle rücken zusammen, um Martina zu sehen, die ihnen gegenüber an der Wand sitzt, unter den bunten Bildern, die einer von ihnen gemalt hat. Sie wollen hören, was sie ihnen zu sagen hat und sich vor allem gemeinsam mit ihr aufregen. Über den, der sie beim Hygieneamt angezeigt hat. Über wen sie sich genau ärgern, wissen sie nicht, die Anzeige war anonym.

Aber Lucie glaubt zu wissen, was Sache ist: „Wir sind die Ratten“, sagt sie. Sie spricht laut. Sie ist wütend, und verletzt: „Die sagen: Kiek doch mal, die Assis“. Neulich habe ihr einer auf dem Heimweg von der Teestube gesagt: „Na, habt ihr wieder abgesahnt, eure Ärsche werden immer fetter!“ Und jetzt schimpft Lucie richtig: „Gebt uns doch Arbeit, dann gehn wir ooch arbeiten!“, schreit sie, als ständen ihr die Männer noch gegenüber, als säße sie gar nicht hier am Tisch bei den anderen. Bei denen, die wissen, wie das ist, wenn der Job weg ist und das Geld und nichts in Ordnung ist. Die Welt in der Teestube ist klar gegliedert – in „die“ und „wir“.

Martina Müller hebt die Hände mit den hellblau lackierten Fingernägeln, beschwichtigt: „Das sind nur einzelne“, sagt sie. „Die meisten unterstützen uns.“ Trotzdem, auch die 51-Jährige hat die Schnauze voll. Sie erzählt den Menschen in der Teestube vom Termin mit den Chefs der Potsdamer Tafel und des Diakonischen Werks, das ihre Arbeit als Sozialbetreuerin in Glindow bezahlt. Sie wirft den Kopf zurück, dass die dunklen Haare nach hinten fliegen. Ihre Handkanten zerteilen die Luft. Dann fallen die Arme herunter, baumeln erschöpft neben dem gelben T-Shirt. Sie kann nicht mehr.

Erst streichen sie ihr vor ein paar Jahren den einzigen bezahlten Mitarbeiter. Nun schließt das Hygieneamt die Garage neben dem Haus. Nicht nur wegen der angeblichen Ratten. Sondern weil Waschbecken fehlen und der Fußboden nicht gefliest ist, auf den Martina und ihre drei ehrenamtlichen Helfer jeden Montag, Mittwoch und Freitag Kisten mit Brot, Gemüse und Obst stellen. Reste aus Supermärkten, Restaurants, Geschäften: Möhren, Kartoffeln und Äpfel – was immer der Laster von der Potsdamer Tafel vorbeibringt. Rund 60 Menschen wählen dann aus den Kisten, was sie gebrauchen können für sich und ihre Familien. Martina Müller geht davon aus, dass sie insgesamt mehr als 200 Erwachsene und rund 50 Kinder mit Tafel-Lebensmitteln versorgen. Sie kommen aus Werder, Caputh, Ferch und Michendorf zur Essensausgabe nach Glindow.

Lucie wohnt ganz in der Nähe, auf der Jugendhöhe, einem Plattenbauviertel aus den 70ern. „Ohne das Essen von der Potsdamer Tafel würde ich nicht über die Runden kommen“, sagt die 57-Jährige. Ihr blondes kurzes Haar über dem runden Gesicht ist frisch gefönt, am Vormittag war sie noch beim Friseur. Wie immer hat sie ihre Enkelin Enola mitgenommen. Die Sechsjährige spielt draußen auf dem Hof mit den anderen Kindern, während die Erwachsenen sich drinnen unterhalten. Das Mädchen hockt zwischen vollgestopften Plastikmüllsäcken. Anwohner haben die Beutel mit ausrangierten Kleidern und Krimskrams für die Menschen von der Teestube abgestellt. Enola zieht einen Pulli mit Glitzerstreifen daraus hervor, den wird sie nachher mit nach Hause nehmen. Wie das schwarze Sommerkleid mit den bunten Blüten, das Oma Lucie heute trägt. Das stammt auch aus einer der Tüten. „Das ist doch schick, und so was schmeißen andere Leute weg!“

Aber Lucie kommt nicht nur wegen des Essens und der Kleider her. Sie geht vor allem wegen der anderen in die Teestube, wegen Iris und Michaela. Hier können sie miteinander reden oder Martina Müller um Rat fragen. Die weiß immer eine Antwort. Selbst wenn es einem dreckig geht, sagt Michaela. Wenn man in einem tiefen schwarzen Loch steckt und nicht mehr herauszukommen glaubt.

Michaela ist oft hier, obwohl sie jetzt einen Job hat. Sie arbeitet halbtags als Putzfrau. Vor zwei Jahren hatte die 26-Jährige noch nichts. Keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld, keine Freunde. Martina Müller hat ihr eine Wohnung besorgt, ihr gezeigt, wie sie den Antrag fürs Arbeitslosengeld ausfüllt, sich bewirbt. Und sie hat zugehört.

„Wenn mir früher etwas zu viel wurde, habe ich einfach zugehauen“, erzählt Michaela. Als sie das erste Mal mit einer Bekannten in die Teestube kam, stand die kräftige, junge Frau mit der großen Brille einfach nur da und hat geheult: „Ich wusste ja gar nicht, wie drücke ich mich aus - ich habe früher ja nie über Probleme geredet.“ Es habe ihr auch niemand zugehört, nicht der Freund, nicht die Eltern. Weder als sie mit 16 vergewaltigt wurde, noch als die Ärzte ihr ein Jahr später sagten, dass sie Gebärmutterkrebs hat. „Seit ich hier bin, habe ich so viel geschafft“, sagt sie. Dann bleibt ihr die Stimme weg. Die anderen nicken.

Und nun sagt Martina Müller, ihre Martina, die ihnen immer hilft, dass sie nicht mehr will. Dass sie keine Lebensmittel mehr ausgeben wird, wenn die Garage länger geschlossen bleibt. „Wir werden Dir helfen“, sagt jemand. „Ja, wir helfen Dir“, sagt Lucie. „Auf jeden Fall“, sagt Michaela. „Das ist das erste Mal, dass sie so etwas tun, dass sie selbstständig die Initiative ergreifen“, sagt Martina Müller später, als die anderen sie nicht hören können.

Iris hat einen Brief an eine Wochenzeitung geschrieben. Andere haben beim RBB angerufen. Sie wollen die Fernsehzuschauer zu Spenden aufrufen - für Waschbecken und Bodenfliesen, wie sie das Hygieneamt verlangt. Martina Müller erzählt das so, als habe eine junge Mutter gerade erlebt, wie ihr Kind den ersten Schritt alleine geht - stolz und voller Staunen. In der Teestube ist ein kleines Wunder passiert.

Juliane Wedemeyer

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