Potsdam-Mittelmark: Die „Radarschleusen“ erweitern
Eine Lesung über die Hintergründe der Mordnacht von Potzlow offenbarte eine überraschende Nähe zu Teltow
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Teltow - Als Marco S. 1995 in Güterfelde eine Lehre beginnt, findet er das erste Mal richtige Kumpel und auch eine Freundin. Diese Zeit in der Region Teltow war die beste seines Lebens wird er später dem Buchautor Andres Veiel berichten. Aufgesucht hat Veiel seinen Gesprächspartner im Gefängnis, wo Marco S. eine 15-jährige Haftstrafe verbüßt.
Veiel recherchierte die Hintergründe einer grausamen Mordtat, die sich in einer Juli-Nacht 2002 im uckermärkischen Potzlow ereignete. Der damals 23-jährige Marco war einer der drei jungen Täter, die einen 16-Jährigen nach stundenlanger Quälereien umbringen und seine Leiche anschließend in einer Jauchegrube vergraben. Die beklemmende Fallstudie, deren Hintergründe Andres Veiel in seinem Buch „Der Kick“ ausleuchtet, war Anlass für das „Netzwerk tolerantes Teltow“, zu einer Lesung einzuladen. „Denn wir müssen genauer hinsehen, unsere Radarschleusen erweitern“, mahnte Netzwerksprecher Dietmar Vieweger. Aufhorchen ließ die rund 80 Zuhörer, die vor wenigen Tagen zur der Leseung ins Bürgerzentrum gekommen waren, dass die Stadt Teltow öfter in Veiels Buch genannt wird. Denn es war die örtliche Teltower Neo-Naziszene, in der sich Marco so wohl und bestätigt fühlte. Doch das Klischee eines rechtsradikalen Milieus reicht nicht aus, als Ursache für diese grausame Gewalttat. Dem Autor gelingt es in Gesprächen mit den Tätern, ihren Angehörigen und Bekannten, Zusammenhänge der Tat tiefer auszuloten. Er erfährt, dass ein Traumata von Gewalt zur Vorgeschichte des Dorfes Potzlow gehört, die bereits im Kriegsjahr 1944 beginnt, sich nach Kriegsende fortsetzt als Russen ins Dorf kommen und auch in der Zeit danach Repressionen nicht ausbleiben. Die meisten Jugendlichen des Dorfes haben Schläge als Erziehungsmaßnahmen kennengelernt, teilen später selber aus. Es klingt fast banal, wenn sie sagen: „Heute machen wir Fetz, da muss wieder einer dran glauben.“
Marco war auch einer, der früher öfter dran glauben musste. Jahre später wird es der stotternde 16-jährige Marinus sein, dessen Familie erst nach der Wende ins Dorf kam. „Jude", nennen sie ihr neues Notopfer, an dem sie sich ausleben. „Es hätte auch einen anderen treffen können, wie das halt so ist"“ meint der Bürgermeister des Dorfes und offenbart damit auch sein mangelndes Problembewusstsein. Denn noch immer würden alle wegschauen, wenn bereits 12-Jährige betrunken durchs Dorf ziehen.
Dass es auch in der Teltower Region Konflikte mit alkoholisierten Jugendlichen gibt, verdeutlichte die anschließende Diskussion. Benannt wird ebenso der rechte Szenetreff „Nordic Thunder“, gleich um die Ecke des Bürgerzentrums. Unerwähnt bleibt auch nicht der Streit zwischen rechten und linken Jugendlichen, der kürzlich auf offener Straße stattfand. Doch hier werde nicht weggeschaut, attestierte Andres Veiel nach einstündiger Debatte der Teltower Bürgerschaft ein hohes Engagement. Dazu zählen solche Fakten wie das neue Familienzentrum, ein Angebot für Eltern in Erziehungsfragen. Dass auch der Ausländeranteil an der Mühlendorf-Oberschule rechtsextremes Gedankengut in der Schülerschaft zurück zu drängen vermochte, gehört ebenso dazu wie die Arbeit des Netzwerkes. Das setzt langfristig auf Aufklärung und Prävention. K. Graulich
K. Graulich
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