KulTOUR: Die Sehnsucht des Schreibens
Elisabeth Richter las aus ihren Erzählungen in der Stadtbibliothek Werder
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Werder (Havel) - „Zwei abgelegte Ehemänner, drei Berufe, vier Kinder, Jahrgang 51, alleinstehend – offenbar kann ich Schwierigkeiten gut leiden!“ So stellte sich die temperamentvolle Autorin Elisabeth Richter kürzlich ihrem Lesepublikum in der Stadtbibliothek Werder vor. Unter dem Veranstaltungstitel „Doppelzunge und andere Erzählungen“ las sie für etwa dreißig Besucher aus meist Unveröffentlichtem.
Ob nun autobiographisch oder einer wahren Begebenheit nachgebildet, handeln sie alle von Frauen, von den angedeuteten Schwierigkeiten, von der ungestillten Sehnsucht nach Liebe (das ist ja wohl auch das Hauptthema dieser Welt), von ihr. Zwei der mit viel Verve vorgetragenen Texte sind öffentlich, der größere Rest wartet in einer Schublade auf einen günstigen Verleger. Für „Stumm“ bekam die einst in Werde, jetzt in Potsdam wohnende Autorin sogar den Brandenburgischen Literaturpreis 2006. Die so wahrhaftige wie berührende Geschichte „verarbeitet“ nicht nur das traurige Ende ihrer geistig schwerbehinderten Schwester Mara, die vor etwa zehn Jahren noch minderjährig starb, sondern zuerst ihr eigenes Verhältnis zu den Eltern. Unter deren Dach wird Mara aufgebahrt, die längst erwachsene Tina kommt so nicht zur Ruhe. Zuletzt geht sie an das Bett ihrer Erzeuger und fragt, wie ein Kind: Kann ich heute bei euch schlafen?
„Die Fotografin“ ist Tatsachen nachgestaltet. Einer solchen wurde einst Gewalt angetan, nun fotografiert sie für eine Projektarbeit fremde Männer in ihren Schlafzimmern. „Die Quitte von Virginia Woolfe“ beschreibt das Wiedersehen der Ich-Figur – fast immer schreibt Elisabeth Richter in der ersten singulären Person – mit einem Liebhaber nach zwanzig Jahren am englischen Flusse Cam. Ob nun biographisch wie „Unterwegs mit Miguel“ oder nicht, man spürt, wie sehr der erhoffte Kuss von ihm ihre eigene Sehnsucht sein könnte. Beim Abschied bleibt jene Quitte in ihrer Hand, genau dort gepflückt, wo die englische Erzählerin einst ausruhte. Sie waren eben nicht quitt, ohne den Kuss „nur so zur Erinnerung“, keinesfalls. Es gab hier ein paar pikante Stellen, welche die Vorleserin selbst lachen ließen.
Die Lektorin im Hauptberuf liest flüssig, engagiert, leidenschaftlich, es kommt, wie man so sagt, „etwas herüber“. So auch in der ersten Erzählung, gleichfalls in Ich-Form von Sehnsucht handelnd: „Doppelzunge“ gibt einfach nur eine Flötenstunde mit dem jüngeren Lehrer wieder. Er will nichts von ihr, sie jedoch ertappt sich während des Spielens beim Betrachten seiner Hüften und Lippen. Zuletzt liegen beide Instrumente nebeneinander auf dem Klavier – könnte das nicht immer so sein?
„Wo sind wir?“ führte den Hörer dann zurück zu den Eltern. Beide sind alt, beide ganz unterschiedlich dement. Sie geduldig-fügsam pflegend, erlebt sie die resolute Mutter noch einmal, den verwirrten Geist des sanfteren Vaters, doch irgendwann ertappt sie sich in dem Wunsch, endlich „davonschleichen“ zu wollen. Das ist vollendete „Kleine Form“: Anschauliche Sprache, Detailreichtum, Lebendigkeit. Man fühlt sich an den russischen Erzähler Wassili Schukschin erinnert, heute leider vergessen. Jedes Sujet bleibt unvollendet, besser unerfüllt – genug, die Sehnsucht des Schreibens herauszukennen.
Übliche Fragen des Publikums dann nach dem Woher oder Wie. Man lobte ihren Einfallsreichtum sehr. Rauschten ihr die Ideen denn zu? „So schrecklich fließen tut da nichts“, antwortete sie mit Humor. Er trug den Gestus dieses gelungenen Abends.
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