Potsdam-Mittelmark: Die Weihnachtsinsel für Großstädter
Baumkuchen, Pyramiden und Eisfahrten auf einem Stuhl: Vor mehr als 100 Jahren herrschte in Werder zur Weihnachtszeit Hochbetrieb. Jutta Enke hat die besinnliche Zeit an der Havel erforscht
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Werder (Havel) - Es ist der Samstag vor Heiligabend. Die Werderaner Hausfrauen eilen mit ihren Körben zum Weihnachtsjahrmarkt auf dem Inselmarktplatz, wo sie noch flugs die Zutaten für ihren Hefenapfkuchen – andernorts auch als Gugelhupf bekannt – besorgen wollen. Den aus Brötchenteig bestehenden Kuchen gibt es jedes Jahr zu Weihnachten. Allerdings backen Werders Frauen nicht selbst, sie bringen den Teig zum Bäcker, der das für sie übernimmt. Nur die wenigsten haben einen Ofen zu Hause.
So oder so ähnlich kann man sich die Vorweihnachtszeit in Werder vor 150 Jahren vorstellen. Eine wort- und bildreiche Reise in diese Zeit bietet Jutta Enke, Gästeführerin in Werder. In ihren Vorträgen lässt sie Zuhörer die Feststimmung von damals erleben. „Es war bis nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, den Teig zu Hause vorzubereiten und ihn dann zum Bäcker zu bringen, wo er fertig gebacken wurde“, erzählt Enke. „In den Dörfern gab es sogar richtige Backhäuser. Hier standen die hiesigen Hausfrauen in einer Reihe an, um dann ihre Waren zum Backen zu geben.“
Werder war damals nicht nur Obstmetropole für die Berliner und das Umland. Die Stadt hatte sich auch zur Weihnachtsinsel der Großstädter entwickelt: Es gab einige Backspezialitäten, die man nur dort bekam. Diesbezüglich spielte vor allem die Bäckerei Dietloff auf der Insel eine wichtige Rolle, der letzte Nachkomme der Bäcker ist in diesem Jahr gestorben. Die Firma hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert einen jungen Bäckersgesellen aus dem Rheinland in die Lehre genommen, der gerade auf Wanderschaft war. Er verliebte sich in die Tochter von Bäcker Dietloff. Aus seiner rheinischen Heimat brachte Jakob Leuka, so sein Name, ein Rezept für Spekulatius samt den dazugehörigen Backformen, den Modeln, mit. Die Spekulatius waren bald eine weit über Werder hinaus beliebte Weihnachtsspezialität. Doch damit nicht genug: Leuka hatte auch Wecken, seine heimischen Brötchen, im Gepäck. Aus dem Teig wurden bei Dietloff Männchen geformt, die Rosinenknöpfe und eine Pfeife im Mund hatten. Vor allem bei Kindern waren sie heiß begehrt.
Noch heute befinden sich historische Backutensilien in der Stadt, etwa die Model für einen Engelskopf mit Flügeln. Sie war aus Marmor und wurde mit Marzipan gefüllt. Auch ein Dampfbackofen aus den 1920ern steht noch in der Backstube des Familienbetriebes, der bis in die 1980er existierte und in dem sich heute ein Restaurant befindet. Der Ofen war seinerzeit ein hochmodernes Gerät, mit dem auch Wasser gekocht und die Wohnküche, Hauptort familiären Zusammenlebens, geheizt werden konnte – ein Luxus vor knapp 100 Jahren.
Eine weitere Spezialität der Werderaner war der Baumkuchen. Der Bäcker Beerbaum hatte ihn nach Werder gebracht und stellte ihn hier her. Die „Baumkuchen- und Honigkuchenfabrik“, wie sich das Unternehmen nannte, war 1793 gegründet worden. So mancher Werderaner, der in die Welt zog und in weit entfernte Länder wie Südamerika auswanderte, versuchte Enke zufolge sein Heimweh dadurch zu lindern, dass er sich von Beerbaum Baumkuchen nachschicken ließ.
„Das Weihnachtsfest hatte damals für die Menschen einen ganz anderen Stellenwert als heute“, erzählt die Gästeführerin. „Es war für die religiöse Bevölkerung nicht nur ein besonderer christlicher Feiertag, sondern auch eine willkommene Unterbrechung vom harten und arbeitsreichen Alltag.“ Zur liebsten Beschäftigung der Werderaner gehörte es, sich in der winterlichen Zeit auf den zugefrorenen Seen zu vergnügen, etwa beim Schlittschuhlaufen auf einfachen Kufen aus Metall und Holz. Besonders beliebt waren bei Jung und Alt die sogenannten Stuhlschlitten – Stühle mit angebauten Kufen – auf denen man sich gegenseitig auf dem Eis herumschob. Sie waren nicht zuletzt bei Verliebten verbreitet, wie ein historisches Motiv zeigt, auf dem ein junger Offizier seine Angebetete übers Eis gleiten lässt. Den eisigen Spaß machten die hiesigen Gastronomen, damals Restauratoren genannt, komplett. Sie bauten in Windeseile ihre Stände auf und boten ihren Glühwein an. Winterlicher Höhepunkt waren jedes Jahr zudem die Peekschlittenrennen der jungen Fischerburschen. Die großen Schlitten wurden bewegt, indem der Fahrer mit langen Stöckern auf das Eis stach. Wichtiger Bestandteil des Heiligabends war auch damals schon das Abendessen. Es gab entweder Heringssalat oder Kartoffelsalat mit Würstchen. Der sprichwörtliche Festbraten wurde erst am ersten Weihnachtsfeiertag aufgetischt: Karpfen in Biersauce oder Karpfen blau mit Meerrettichsauce, frisch aus der Havel. Auch Wild aus den umliegenden Wäldern verzehrte man sehr gern. Nach dem Abendessen wurde an Heiligabend dann gesungen, anschließend mussten die Kinder Gedichte aufsagen. Die Bescherung wurde mit einem Glöckchen eingeläutet.
Dabei konnte man die Geschenke natürlich nicht einfach kaufen, sie wurden oft abends selbst gebastelt. Sollten es ausgefallenere Geschenke sein, gab es aber auch dafür Abhilfe: „Es gab zum Beispiel einen Korbmacher, der auf Wunsch auch Puppenhäuser oder -wagen anfertigte“, erzählt Jutta Enke. Und auch die bunten Teller waren noch nicht voller Süßigkeiten. „Es gab Nüsse, Backpflaumenmännchen und einen roten Borsdorfer, das war der typische Weihnachtsapfel.“ Außerdem war es nicht der Weihnachtsmann, auf den sich die Kleinen freuten, sondern das Christkind. „Das geht auf Martin Luther zurück“, so Enke. „Luther wollte nicht, dass man die Heiligen wie Nikolaus zu sehr verehrte. Deshalb setzte er sich dafür ein, dass der Heiligabend mit der Geburt des Christkinds zum festlichen Höhepunkt wurde. Der Weihnachtsmann, wie wir ihn kennen, wurde erst in den 1930ern durch die Firma Coca Cola berühmt, die diese Figur für eine Werbekampagne benutzte.“
In den Wohnstuben gab es nicht nur keinen Weihnachtsmann, auch der Baum fehlte. Dafür gab es die Weihnachtspyramiden. Sie wurden selbst gebastelt, etwa aus Strohsternen und bunt geschmückten Papprollen, und ersetzten die Tanne. Nach dem Fest wurden sie sorgsam eingepackt und fürs nächste Jahr verstaut. Die Tradition der Weihnachtspyramide brachten die eingewanderten Schlesier nach Werder, wo sie sich schnell durchgesetzt hatte. Der echte Weihnachtsbaum kam erst erst um 1920 auf.
nbsp;Stefan Kahlau
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