Potsdam-Mittelmark: Ein Jahr länger leben
16 afrikanische Flüchtlingskinder verbrachten ihren Urlaub in Teltow. Der tut nicht nur ihren Seelen gut
Stand:
Teltow - Die kühle fruchtige Creme, die auf der Zunge schmilzt, schmeckt so herrlich, dass manches Kind für einen Moment genussvoll die Augen schließt. Eis und Schokolade sind bislang das Leckerste, was 16 Mädchen und Jungen aus der Westsahara bei ihrem Besuch in Teltow kennen gelernt haben. Denn in ihrer Heimat, einem Flüchtlingslager nahe der algerischen Wüstenstadt Tindouf, ist schon ein Eimer Wasser eine Kostbarkeit.
Sechs Wochen lang machen die Sieben- bis Zwölfjährigen Urlaub in Deutschland. Die ersten sieben Ferientage haben sie in Teltow verbracht. Gewohnt haben sie in den Horträumen der Kita Ruhlsdorf, wo sie gemeinsam mit deutschen Kindern spielen konnten. Und als sie am Wochenende Richtung Thüringen aufgebrochen sind, konnten sie viele neue Kleider mitnehmen. Denn die Ruhlsdorfer Eltern haben soviel für die kleinen Gäste gespendet, dass ein ganzer Raum kaum ausgereicht hat für all die Taschen und Pakete.
Es geht bei der Urlaubsreise aber vor allem darum, die humanitäre Situation der Kinder zu verbessern, erklärt SPD-Europaabgeordnete Margot Keßler. Sie organisiert mit dem thüringischen Verein „Salma“ jedes Jahr die Ferienaktionen. Nach dem Aufenthalt in Deutschland setze bei den Kindern nicht nur ein Wachstumsschub ein, sondern die Ärzte stellten auch fest, dass sich das Leben der Kinder dadurch um ein Jahr verlängert, so Keßler. Besonders die medizinische Betreuung in Deutschland – vom Zahnarzt und Allgemeinpraktiker bis hin zum Spezialisten – wirke sich positiv auf sie aus. Kontakt zur Stadt Teltow bekam Keßler über deren französische Partnerstadt Gonfreville, die seit Jahren regelmäßig Kinder aus Flüchtlingslagern zu Erholung einlädt. Dieses Jahr reisten sie bereits zum dritten Mal in die Mittelmark.
„Wir freuen uns jedes Jahr auf die strahlenden Kinderaugen“, sagt Annemarie Lübeck vom Teltower Streichelzoo. Neben dem Besuch im Freibad Kiebitzberge ist vor allem der Besuch im Streichelzoo für die Kinder ein unvergessliches Erlebnis. Bei den Inhabern Annemarie und Horst Lübeck können sie mit der Kutsche fahren und auf Ponys reiten.
Für Staunen sorgt dort aber auch die Verpackung der spendierten Eiscreme, die die Kinder ausgiebig begutachten. Die Plastikbecher haben die Kopfformen von Lupo und Donald Duck – zwei Comicfiguren, die sie aus dem Fernsehen kennen. In jedem 20. Zelt des heimischen Flüchtlingslagers gibt es einen Apparat mit Satellitenempfang, der von Solarstrom gespeist wird. Allerdings reicht die Kapazität meist nur für eine Stunde.
In Teltow gibt es ohnehin Spannenderes als fernzusehen: Weil das Thermometer über 30 Grad anzeigt, haben die Lübecks kurzerhand den Rasensprenger angestellt. Da kennt der Jubel der jungen Gäste kaum Grenzen, immer wieder hopsen sie ausgelassen durch die Wasserfontänen und als eine kurze Pause zum Ausruhen angeordnet wird, schleichen zwei Knirpse übermütig zum Wasserhahn und drehen die sprudelnde Quelle wieder auf. Aber keiner der Erwachsenen schimpft – sie wissen, was dieser Wasserspaß den Kindern bedeutet, in deren Heimat Temperaturen bis zu 50 Grad herrschen.
Kaum vorstellbar sei für Europäer, erzählt Margot Keßler, unter welchen Bedingungen rund 165 000 Flüchtlinge seit über 30 Jahren in der algerischen Sand- und Steinwüste ausharren. Die Geschichte der Saharauis, so nennt sich das Volk selbst, ist eine Spätfolge spanischer Kolonialpolitik. Nach dem Rückzug der Spanier 1976 war ihr Land von Marokko besetzt worden. „In dem Gebiet, in dem die Saharauis jetzt leben müssen, ist Leben eigentlich nicht möglich“, sagt Keßler, die schon mehrmals die Lager besuchte. Mühsam würden Eltern versuchen, wenigstens Zwiebeln und Rettiche anzubauen, um dem Vitaminmangel ihrer Kinder abhelfen zu können. Doch die Erde sei so salzhaltig, dass sich nach jedem Bewässern dicke Salzkrusten bildeten. Zeigten sich dann doch grüne Blättchen, kämen oft die gefräßigen Heuschrecken. Seit einem Jahr gibt es zudem ein neues Problem: Regen. Eine richtige Flut ließ erst kürzlich die einzigen wenigen Lehmhäuser in sich zusammenbrechen.
So etwas hatten sie in 30 Jahren Lagerexil noch nicht erlebt, denn noch nie zuvor hatten die Saharauis Wolken über dem Lagerhimmel gesehen. Nun traf sie diese neue Naturgewalt mit derartiger Wucht, dass sie sich um zu überleben, fortan auch auf diese veränderten Klimabedingungen einstellen müssen.
Kirsten Graulich
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: