
© Tobias Reichelt
Potsdam-Mittelmark: Ein Leben auf der Flucht
Mit Wehen ging sie an Bord: Sonne, Salzwasser und dann endlich Europa. Jetzt ist die Familie in Teltow gestrandet
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Teltow - Es war der 22. Juni 2011, an dem ihr neues Leben begann – und das ihres jüngsten Sohnes Achmed. Fatima Aboubakar weiß das Datum noch genau. Zwei Tage hatte die schwangere Frau mit ihren vier Söhnen und ihrem Mann Ali Moussa-Karim auf einem Schiff im Mittelmeer mit Dutzenden Flüchtlingen gekauert. Einem Schiff, das Europäer getrost als Nussschale bezeichnen würden.
Die Sonne brannte auf ihre dunkle Haut, Salzwasser spritzte über die Reling und tief im Bauch der zierlichen Frau wollte ein Kind hinaus in die Welt. Als Fatima Aboubakar an Bord gegangen war, hatten die Wehen eingesetzt. Zwei Tage quälte sie sich. Hinter ihr prasselten die Bomben auf Libyen nieder, vor der Familie lag eine ungewisse Zukunft in Europa.
Ihre Kinder sollten es besser haben als sie, sagt ihr Mann Ali Moussa-Karim und streicht seiner Frau über die Hand. Zwei Jahre nach der Überfahrt ist die Familie im Asylbewerberheim Teltow gestrandet. Mit einem Stift schreibt Fatima Aboubakar das wichtige Datum nieder. 22.6.2011. Langsam und behutsam fließen die Zahlen auf das weiße Papier. Um den Stuhl der 33-Jährigen im Bürgersaal des Teltower Rathauses springen ihre Söhne, stecken sich Weintrauben in den Mund und rennen Luftballons hinterher.
Seit Anfang Februar leben die ersten von insgesamt 198 Flüchtlingen im größten Asylbewerberheim des Landkreises in der Teltower Iserstraße. Gestern hat sie der Bürgermeister zum Willkommensfrühstück eingeladen. Die Gäste kommen aus Ländern wie dem Iran, Pakistan, Kenia oder dem Tschad. Unter ihnen sind 23 Kinder, sie besuchen jetzt Kitas und Schulen in der Stadt, auch die Kinder von Fatima Aboubakar und Ali Moussa-Karim. Die Eltern haben nie eine Schule besucht. „Bildung ist wichtig“, sagt Ali Moussa-Karim auf Französisch. Fatima schiebt sich mit den zarten Fingern ihr weißschwarz kariertes Kopftuch zurecht und sagt: „Wir suchen hier für unsere Kinder ein neues Leben.“
Das Heimatland der Familie, der Tschad, ist seit Jahren vom Bürgerkrieg zerrüttet. Ihre Väter gelten dort als Rebellen – niemand lebt dann mehr sicher, erzählt Fatima. Als sie das erste Mal schwanger wird, fliehen sie nach Libyen. Acht Jahre leben sie unter Muammar al-Gaddafi, bis die Nato-Truppen den Machthaber mit Bomben vertreiben – aber auch die junge Familie aus dem Tschad. Lampedusa, sagt Fatima Aboubakar immer wieder. Auf der italienischen Flüchtlingsinsel begann ihr neues Leben und gleich nach der Ankunft in Italien kam auch Sohn Achmed zur Welt.
Dort bleiben wollten sie nicht. Viele Flüchtlinge auf einem kleinen, viel zu kleinen Fleck. Vor fünf Monaten erreichte die Familie Deutschland, wechselte von einem Aufnahmelager ins nächste, bis sie in Teltow ankommt. Sie hoffen, dass es das Ende der langen Flucht ist.
Theresa Arens, die Integrationsbeauftragte des Landkreises, spricht über Teltow als Vorzeigemodell. In wenigen Wochen wurde hier ein Asylbewerberheim aufgebaut. Die Stadt, die Kirche, Vereine und Ehrenamtliche organisierten Hilfe. Es entstand ein Netzwerk, das auch Landrat Wolfgang Blasig (SPD) als exemplarisch lobt. Jedes Jahr soll der Landkreis 8,2 Prozent der Asylbewerber Brandenburgs aufnehmen, im nächsten Jahr werden etwa 160 neue Flüchtlinge erwartet. Deshalb suche man weiter nach Unterkünften, in Teltow, Werder (Havel), Groß Kreutz oder Stahnsdorf. Die Flüchtlingsfamilien sollen künftig möglichst dezentral untergebracht werden, sagte Blasig.
Denn ein zentrales Heim kann Probleme mit sich bringen: So stand Angelika Hipp, Leiterin der Ernst-von-Stubenrauch-Grundschule in Teltow, vor der Aufgabe, 13 Flüchtlingskinder unterzubringen. „Sie konnten kein Wort Deutsch“, sagt Hipp. Inzwischen wurde geübt, beim Frühstück, beim Sport oder Singen. Mit Händen und Füßen hangelten sich Lehrer durch den Unterricht, einen Dolmetscher gab es nicht. Jeden Tag werden die Kinder drei Stunden in einer neu gegründeten Klasse unterrichtet. Zum Ende des Schuljahres sollen die ersten in die anderen Klassen eingebunden werden. „Die Eltern bringen ihre Kinder jeden Tag und würden am liebsten gleich dableiben“, erzählt Hipp.
Auch Ali Moussa-Karim und seine Frau Fatima bringen ihre Söhne in die Schule. Gerne schauen sie zu, wie sie schon beim Frühstück neue Worte lernen: Butter, Brot, Marmelade. Sie wollen, dass ihren Kindern der Einstieg in das neue Leben gelingt. „Auch wenn es schwer wird“, sagt Fatima und streicht über ihren Bauch. Darin schlummert ihr sechster Sohn. Er soll in Deutschland zur Welt kommen, wo er es besser haben soll als so viele ihrer Landsleute im Tschad.
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