zum Hauptinhalt

KulTOUR: Ein Rätsel für die Wissenschaft

Gespräch im Huchel Haus: Im Banne des Dichters Wolfgang Hilbig

Stand:

Michendorf - Anfangs wusste die gestandene Literaturwissenschaflerin Birgit Dahlke nicht, ob sie eine Biographie über den höchst sperrigen Dichter Wolfgang Hilbig (1941-2007) überhaupt zustande kriegen würde. Nachdem dann ihr „kleines Buch“ über ihn fertig war, hätte sie gern auch eine richtig große geschrieben. Aber da war es schon zu spät, ein anderer hatte den Zuschlag bekommen. Trotzdem, so verriet sie jüngst beim aktuellen Literaturgespräch im Wilhelmshorster Huchel-Haus, befinde sie sich noch immer voll im Banne des gebürtigen Meuselwitzers, denn trotz allen Recherchierens hielt der „wenig erforschte Dichter“ noch immer „viele Rätsel“ für sie bereit.

Die bekennende Feministin verstehe zum Beispiel nicht, warum der vaterlos aufgewachsene Schriftsteller seine Mutter immer „so negativ“ beschrieben habe, obwohl sie noch im hohen Alter eine so redselige wie lebensfrohe Person gewesen sei. Wie er den Leistungssport mit seiner Alkohol- und Nikotinsucht vereinbaren konnte ? Warum er gleich nach Beendigung seines autobiographischen Romans über eine Alkohol-Therapie wieder zur Flasche griff ? Auch andere „Paradoxa“ kann sie sich mitnichten erklären: Den Widerspruch zwischen seiner proletarischen, fast analphabetischen Herkunft und dem hohen Niveau seiner Texte, den lebenslangen Selbstzweifel an sich und seinen Büchern, das Missverhältnis zwischen innerer Unruhe und seiner „sozialen Unbeweglichkeit“. Kurzum, der mutmaßliche „Arbeiterdichter“ und Kohlenheizer passt eigentlich nirgendwo hin, weder in die DDR noch (ab 1985) in den Westen, weder in den gut geölten Literaturbetrieb noch in die Wissenschaft. Und das, obwohl er fünfzehn Literaturpreise erhielt!

Was aber sollte daran rätselhaft sein, wo es doch das Wörtchen „und“ gibt! Der erklärte Bob Dylan-Fan verstand sich als unbürgerlich, als Chaot, als ein Rollender Stein. Hätte man diesen existentiellen Ansatz in Rede und Widerrede mit der Moderatorin Annett Gröschner nicht so moderat verschwatzt und damit begraben, es hätte ein brisanter Abend um die Frage „Wie viel Wissenschaft braucht ein Dichter – wie viel Dichtung verträgt die kanonische Wissenschaft?“ werden können.

Leider blieb das Funkenstieben aus. Die weltläufige Biographin schien kaum zu bemerken, wie wenig jene Wissenschaft, die sie von den USA bis nach Berlin und Lüneburg lehrt, ihre eigenen Fragen beantworten konnte. Offenbar kann man Literatur und Leben doch nicht immer auseinanderzuhalten. Hilbig („die schweigsame Prominenz des literarischen Untergrundes vom Prenzlauer Berg“) schaffte es sogar, den wissenschaftlichen Ordnungssinn seiner Biographin zu verwirren: Sie bekam weder den Proporz von Authentizität und Fiktion unter einem Hut, noch verstand sie, wie der Autodidakt in seinem Arbeitszimmer „völlig unsortierte“ Notizen hinterlassen konnte, dazu noch auf Einkaufsrechnungen und Zeitungsränder gekliert! Man kann nur hoffen, dass Hilbig als Starktrinker, Kettenraucher und Dichter möglichst lange ein unlösbares Rätsel bleibt. Immerhin hat die so eloquente wie temperamente Autorin ehrlich Rede und Antwort gestanden. Ihre Hilbig-Biographie will demselben aber nicht nur „in die erste Reihe“ des dichtenden Olymps verhelfen, sie soll auch auch eine „Anleitung zum Lesen“ sein. Um Gottes willen, für wen denn? Rätselhaft ist der Mensch - rätselhafter die Wissenschaft!

Dieser gut besuchte Abend zeigte also auch mal die Kehrseite der Literatur. Stritten denn in Wilhelmshorst nicht dichtendes Herzblut und akademische Ordnung um Hegemonie? Dass Birgit Dahlke dabei die offenen Stellen selbst benannte und eingestand, ist kein geringes Verdienst.

gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })