zum Hauptinhalt

Potsdam-Mittelmark: Eine Villa voller Leben

Raus aus Berlin, rein in die Ruhe: Kinder aus schwierigen Familien leben jetzt in Wilhelmshorst

Von Eva Schmid

Stand:

Michendorf – 16 Uhr, Kaffeezeit. Der lange Holztisch mit 16 Stühlen füllt sich. Fünf Generationen kommen zusammen, täglich, immer um die gleiche Uhrzeit. In die denkmalgeschützte Renesse-Villa in der Straße An den Bergen in Wilhelmshorst ist wieder Leben eingezogen.

Seit Oktober wohnt eine Wohngruppe in dem Haus mit 600 Quadratmetern Wohnfläche. Ein Pädagogenehepaar betreut sechs Kinder, dazu kommt die eigene Familie, also Kinder und außerdem noch die Eltern der zwei Erzieher. Der jüngste Hausbewohner ist vier Jahre alt, der älteste 91.

Bei der täglichen Kaffeerunde wird munter drauflosgeredet. Heute geht es um den Christstollen. „Da ist Marzipan drin, das mag ich nicht“, sagt einer der betreuten Jungen. Ein blondes Mädchen antwortet frech: „Dann esse ich eben dein Stück.“ Zur Weihnachtszeit dreht sich alles um Süßigkeiten. Auch dass einer der drei Familienhunde sich vor Kurzem einfach über die Nikolausgeschenke hergemacht hat und die Schokolade auffraß, ist Tage später noch Gesprächsthema.

„Wenn wir einmal am Tag alle zusammen an den Tisch kommen, dann geht es meist darum, was einem unter den Nägeln brennt“, sagt Norbert Kühn. Die Idee mit der Kaffeerunde habe sich vor Jahren ergeben. „Ich trinke nachmittags gerne einen Kaffee, die Kinder haben sich irgendwann dazugesetzt.“

Seit sieben Jahren betreut der 57 Jahre alte Pädagoge zusammen mit seiner Frau Marion Kühn Kinder, deren Elternhäuser so zerrüttet oder schwierig sind, dass sie außerhalb ihrer Familie aufwachsen.

Alle sechs Kinder im Alter von vier bis 15 Jahren, die das Paar seit mehreren Jahren betreut, kommen aus Berlin. Viele von ihnen haben neben psychischen auch körperliche Beschwerden wie Asthma oder Neurodermitis. Manche sind hyperaktiv und haben Probleme, sich zu konzentrieren. Der Träger der Wohngruppe, der Berliner Verein „Sozialarbeit und Segeln“, hat sie bewusst aus der Großstadt herausgeholt, um ihnen zu helfen. „Für sie ist eine reizarme Umgebung sehr wichtig“, sagt Erzieherin Marion Kühn: durch den Wald spazieren statt vor dem Fernseher sitzen, Tiere pflegen statt auf der Straße vor der Wohnung herumzulungern.

Seit drei Monaten wohnt die Großfamilie in Wilhelmshorst. Davor lebte sie auf einem Vierseitenhof im Beelitzer Ortsteil Elsholz. Das Leben war dort noch viel ländlicher als jetzt in Wilhelmshorst: „Wir hatten Tiere und einen Traktor und haben Kartoffeln geerntet“, erinnert sich eines der Kinder.

Aber der Platz wurde zunehmend zu knapp. „Wir wollten jedem Kind ein eigenes Zimmer bieten“, erzählt Norbert Kühn. Die Erzieher wollten auch näher an Potsdam sein, um den Kindern weite Fahrtwege zu ihren Therapeuten in der Landeshauptstadt zu ersparen.

Nah an den Potsdamer Ärzten, aber dennoch im idyllischen Grün wollte auch die Vorgänger-Wohngruppe sein, die vor rund einem Jahr aus der denkmalgeschützten Villa ausziehen musste. Bevor die vielen Kinder eingezogen sind, wohnte in dem großen Haus eine Senioren-WG. Im Gegensatz zu einem klassischen Pflegeheim wurden in der Wohngruppe nur wenige, zum Teil pflegebedürftige, ältere Menschen versorgt, Krankenpfleger waren Tag und Nacht vor Ort.

Das Projekt scheiterte, schuld waren die hohen Brandschutzauflagen (PNN berichteten). Nach langem Kampf gegen die Behörden gab die Initiatorin der Senioren-WG 2013 auf. Dem jetzt eingezogenen Familienverbund bleibt der Ärger mit der Bauaufsicht erspart – die Wohngruppe ist eine Familie wie jede andere auch, besondere Brandschutzauflagen muss sie nicht erfüllen.

Immerhin haben die Einbauten der Vorgänger für den Brandschutz etwas Positives: Die Kinder können von ihren Zimmern im ersten Stock außen über die Feuerleiter zur Eingangstür an der Rückseite des Hauses gelangen. Von dort geht es direkt in den Wald, der für sie ein großes Abenteuer ist. „Wir haben schon 4,8 und 3,5 Kilometer lange Spaziergänge dort gemacht“, sagt eines der betreuten Kinder. Die Kilometer habe Norbert mit seinem Handy gezählt.

Das neue, große Zuhause gefällt den sechs Kindern sehr gut. Immer mal wieder schauen ihre leiblichen Mütter vorbei – auch für sie sei die Anbindung von Berlin nach Wilhelmshorst besser als bisher nach Beelitz. „Wir fühlen uns hier sehr willkommen“, sagt Marion Kühn. Eine Nachbarin habe Kleider, die ihre Kinder nicht mehr benötigten, vorbeigebracht.

Auch der Michendorfer Bürgermeister habe bereits vorbeigeschaut. „Im kommenden Jahr wollen wir dann allen Interessierten bei einem Tag der offenen Tür unsere Wohngruppe vorstellen“, sagt Norbert Kühn. Dann wird die 16-Uhr-Kaffeerunde ein bisschen größer – Platz ist mittlerweile ja kein Problem mehr.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })