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Von Martina Conradt: „Es geht ums Kämpfen“

Erstes Dimicare-Kindercamp auf Bauernhof bei Beelitz: Neue Welt für traumatisierte Kinder

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Beelitz -Tom ist sechs und hat Angst vor Männern. Mal weint er, ist bockig oder verschlossen, dann wieder fröhlich und zugänglich. Sein Vater soll ihn sexuell missbraucht haben. Die Schwestern Gina und Mandy, vier und fünf, wurden vor einem dreiviertel Jahr unterernährt aus einer völlig verdreckten Wohnung befreit, konnten beide nicht sprechen. Mandy ist mit einer Gaumenspalte geboren, die medizinisch nie versorgt worden war. Inzwischen ist sie operiert und lernt langsam, sich mit Sprache zu verständigen. Kinderschicksale in Deutschland.

Rund ein Jahr dauerten die Vorbereitungen der „Dimicare Anneliese Langner Stiftung“. Dann, in der ersten Septemberwoche, lud Dimicare elf Vorschulkinder zu einem besonderen Camp ein, darunter auch Tom, Gina und Mandy. Hier auf einem Bauernhof bei Beelitz (der genaue Ort wird zum Schutz der Kinder nicht genannt), treffen sie auf eine heile Welt mit engagierten Erziehern. Die Wände sind bunt angemalt, die Atmosphäre ist liebevoll. Es warten Pferde, Katzen, Hunde, Papageien und ein Hängebauchschwein auf Streicheleinheiten. Es gibt gesundes Essen, keinen Fernseher, die Kinder lernen eine Zahnbürste richtig zu benutzen und sich regelmäßig zu waschen. Zu den Programmpunkten der Woche gehören Reit- und Musiktherapie, basteln, spielen, vorlesen und vor allem Spaß und Lachen.

Michael Schenk, Musikwissenschaftler, Komponist und Klangkünstler, arbeitet mit den Kindern jeden Tag. „Wichtig ist einerseits das bewusste Hören und die Wahrnehmung der Umgebung – im Wald, im Haus, auf der Straße. Aber auch zu erkennen, was täglich überhört wird, die leisen Töne nämlich. Herzklopfen, Bauchgrummeln, Geräusche beim Laufen und Atmen.“ Eine Klanggeschichte wurde daraus entwickelt.

Durch den Umgang mit Sprache, Musik und Geräuschen lernen die Kinder etwas, was den meisten fehlt: sich selbst wahrzunehmen, auch zuzuhören und andere ausreden zu lassen. Die Kraft der Musik und der Worte wird zum Synonym der eigenen Stärke: man muss nicht brüllen, nicht aggressiv und laut sein, um seine persönlichen Ziele zu erreichen.

Hinter all diesen Aktivitäten steht eine Grundidee: die Kinder in ihrem Selbstwert zu stärken, sagt Anneliese Langner. Ihre „Dimicare Stiftung“ wurde im Jahr 2007 in Berlin gegründet. Sie entwickelt, installiert und begleitet ausgewählte Projekte im Raum Berlin und Hamburg, die Kindern im Alter von null bis zehn Jahren und deren Müttern helfen, sich aus menschenunwürdigen Lebensumständen zu befreien.

„Dimicare kommt aus dem Lateinischen und heißt kämpfen – und darum geht es“, sagt Anneliese Langner. Sie ist Diplompadägogin und selbst Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern. „Körperlicher, sexueller und auch seelischer Missbrauch findet in vielen Familien statt.“ Rechtlich würden solche Menschen oft völlig im Stich gelassen, sagt Langner. „Wir möchten helfen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und zu erkennen, wie wichtig ein stabiles, soziales Netz und der Glaube an sich selber sind.“

Tom, Gina und die anderen Berliner und Brandenburger Kinder erleben eine neue Welt. Die Erzieher helfen, keine Angst zu haben, sondern sich zu trauen. „Gerade die Reittherapie war beeindruckend. Manche hatten so viel Angst – aber am Ende haben sich doch alle getraut, eine Runde zu reiten“, sagt Langner, „manche sogar schon im schnellen Trab.“

Wer möchte, kann noch einmal eine Woche in einem Dimicare-Camp verbringen. Eltern sollen gewonnen werden, den „Erziehungsführerschein“ zu machen. In den Herbstferien kommen die nächsten zwei Gruppen, dann sind auch Schulkinder dabei. Der Bedarf ist groß. „Auf der anderen Seite richten wir uns aber auch an Eltern und Erzieher, die die Nöte ihrer Kinder erkennen und helfen wollen, aber allein dazu nicht in der Lage sind“, sagt Langner.

Im Internet unter:

www.dimicare.de

Martina Conradt

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