
© Eva Schmid
Potsdam-Mittelmark: Familienleben lernen
Alternative zu Heim und Pflegefamilie: Wie Kinder und Pädagogen in Wohngruppen den Alltag meistern
Stand:
Werder (Havel) - In dem großen Werderaner Einfamilienhaus gegenüber der Bismarckhöhe gehen jeden Abend um die gleiche Zeit die Lichter aus. Tobias und Lukas sind die ersten: Kurz nach dem Abendessen werden die zwei drei- und vierjährigen Geschwister ins Bett gebracht. Die Lampen unter dem Dach werden ausgeknipst. Für den zwölfjährigen Tom, der im Zimmer gegenüber wohnt, ist um viertel nach neun Zapfenstreich. Die 15-jährige Lisa muss um zehn Uhr auf den Schalter drücken. Im Keller geht eine halbe Stunde später das Licht aus. Der 17-jährige Olaf sieht mittlerweile von selbst ein, dass er seinen Schlaf braucht. Ein ganz normaler Abend in einer Großfamilie. Der Unterschied: Wenn die Erwachsenen, Christian und Katrin Schäfer, zu Bett gehen, dann ziehen sie ihre Wohnungstür hinter sich zu. Wohnungstür?
Familienanaloge Wohngruppe, so lautet der sperrige Fachbegriff für das, was zwei Berliner Pädagogen mit derzeit fünf Kindern aus schwierigen Familien leben. Die Kinder sind vom Jugendamt in die Werderaner Wohngemeinschaft geschickt worden. Sie hätten auch in ein Heim oder eine Pflegefamilie kommen können. In dem 400 Quadratmeter großen Haus mit zwei Etagen und fast 600 Quadratmeter Garten hat jeder genügend Freiraum für sich. Das gilt auch für die Fachkräfte, die dort Arbeitsplatz und Wohnstätte in einem haben. Christian und Katrin Schäfer sind immer da, immer ansprechbar, wenn nötig 24 Stunden im Einsatz. Nur wenn sie ihre Tür zu ihrer eigenen Dreizimmerwohnung im Haus hinter sich zugezogen haben, heißt das: bitte nur noch im Notfall stören.
„Wir sind multifunktional“, sagt Christian Schäfer. In der Wohngemeinschaft, in der das Ehepaar seit 13 Jahren insgesamt schon 18 Kinder betreut hat, sei man eben nicht nur der Pädagoge. „Wir reparieren auch Computer, helfen bei Liebeskummer oder schmieren Schulbrote.“ Das Leben in der Wohngruppe habe zwar familiären Charakter – ein Elternersatz sind Christian und Katrin aber nicht. Das zeige sich schon daran, dass die Kinder sich in der Regel zwei Jahre eingewöhnen müssten, erklärt Christian Schäfer.
Die beiden Pädagogen versuchen den Kindern das zu geben, was die meisten von zu Hause nicht kennen: Sicherheit, wiederkehrende Abläufe und Erziehung zur Selbstständigkeit. Dass die Kinder überhaupt von zu Hause wegziehen müssen, liegt nicht an ihnen, sondern an ihren Eltern. Die seien mit der Erziehung überlastet. Ein Teufelskreis beginnt: Der Zoff zu Hause führt zu Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen bei den Kindern, das Jugendamt schaltet sich ein.
Laut dem Sozialgesetzbuch haben Eltern Anspruch auf Erziehungshilfen, erklärt der mittelmärkische Jugendamtschef Bodo Rudolph. „Das Jugendamt greift gerne auf das Angebot der familienähnlichen Wohngruppen zurück.“ Manche Kinder seien so traumatisiert, dass Pflegeeltern damit überlastet wären. „Dafür braucht man Fachpersonal, das mit den Kindern arbeitet.“ Rudolph ist froh, dass immer mehr freie Träger die Lücke zwischen Heimen und Pflegefamilien schließen. Im Gegensatz zu der Situation im Heim haben die Kinder in den Wohngruppen eine engere Beziehung zu ihren Bezugspersonen, den Pädagogen. Allein der Träger der Werderaner Wohngemeinschaft, die gemeinnützige Gesellschaft für soziale Hilfen Berlin Brandenburg mbH (SHBB), betreibt 20 Wohngruppen mit bis zu sechs Plätzen unter anderem in Wildenbruch, Caputh, Beelitz und Stahnsdorf.
Auch wenn die Schäfers mit den fünf Kindern gemeinsame Ausflüge am Wochenende unternehmen, zusammen einkaufen, kochen, essen und fernsehen: Das Ziel sei es, die Kinder wieder in ihre Ursprungsfamilien zurückzuführen, erklärt Christian Schäfer. Um das auch zu schaffen, wird gemeinsam mit den Eltern ein Plan entwickelt, wie genau das funktionieren könnte. Und auch wenn die beiden Pädagogen fürchten, dass ihre Schützlinge nach dem Wochenendbesuch bei den Eltern, die sie in der Regel alle 14 Tage sehen, durch den Wind sind, setzen beide auf die Eltern. „Sie sind einfach die emotionale Tankstelle, die die Kinder benötigen.“ Außerdem bräuchten die Kinder auch immer ein reales Bild von der Situation zu Hause. Falle das weg, konstruierten sich die Kinder ein Idealbild – das Unverständnis darüber, weshalb sie in der Wohngruppe sein müssen, wachse umso mehr.
Eltern und Pädagogen müssen bei den familienähnlichen Wohngruppen einen Draht zueinander haben. Ohne Zustimmung der Eltern kann das Wohnprojekt nicht funktionieren. Sobald von ihnen Vorbehalte kommen, projiziere sich das auf das Kind, sagt die Pädagogin Katrin Schäfer. Auch für die Erzieher ist es eine Herausforderung: „Sie müssen die Herkunft der Kinder würdigen“, erklärt der Sozialpädagoge Heiko Kleve, Dekan des Fachbereichs Sozialwesen an der Fachhochschule Potsdam. Denn die familiäre Herkunft präge maßgeblich die Identität. Die Fachkräfte müssten sehr an sich arbeiten, um nicht nur oberflächlich, sondern tatsächlich nichts gegen die Eltern zu haben. Erst dann könne sich ein Kind durch eine derartige Erziehungshilfe mit seiner eigenen Herkunft versöhnen. „Und das ist die Voraussetzung, seinen eigenen Weg gehen zu können“, so Kleve. Bei jedem fünften Kind funktioniere laut dem mittelmärkischen Jugendamt die Rückführung in die Familie oder der Weg in ein selbstständiges Leben.
Den Alltag in den Griff zu bekommen, wird in Werder täglich geübt: Wie in einer Studenten-WG hängt dort in der Küche ein Aufgabenplan. Lukas und Tobias sind die Woche mit Tischdecken dran, Olaf muss den Müll rausbringen, Lisa hilft beim Staubsaugen. Einmal pro Woche lassen sich die Kinder verwöhnen, wenn die Schäfers die Leibspeise der WG auftischen: mit Käse überbackener Hackepeter. Nach so einem Essen knipsen alle zufrieden und pünktlich das Licht aus.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: