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Aus dem GERICHTSSAAL: Fast eine Amokfahrt

Unterzuckerung mit dramatischen Folgen/Geldstrafe

Stand:

Nuthetal – Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft spricht vom horrormäßigen Wortlaut der Anklageschrift. Die Amtsrichterin stuft die „Form der Fahrlässigkeit“ ganz unten ein, auch wenn diese Fahrlässigkeit gravierende Folgen hatte. Der Angeklagte Hubert H.* (48) kommt mit einem blauen Auge und der vergleichsweise geringen Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 40 Euro davon. Sechs Monate darf er nicht mehr ans Steuer eines Autos.

Dachdecker Hubert H. aus Michendorf ist Diabetiker. Er lebt seit zwölf Jahren mit einer Insulinpumpe, die seinen Blutzuckergehalt reguliert. Bevor er von seinem Potsdamer Arbeitsort nach Hause fährt, kontrolliert er den Blutwert. Dann stellt er die Pumpe vorübergehend ab. Das ist Routine für den Mann. Nie hatte er auf der Fahrt gesundheitliche Probleme – bis zum Nachmittag des 4. Juli 2011. Doch von dem weiß der wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung Verurteilte nach eigener Aussage nicht mehr viel. „Ich war der Ansicht, kein Insulin zu brauchen. Vorsichtshalber hatte ich vor Fahrtantritt aber Traubenzucker gegessen“, so Hubert H. Die Tour durch Potsdam sei ganz normal verlaufen. Er könne sich auch an die geschlossene Bahnschranke in Bergholz-Rehbrücke erinnern. „Dann bin ich erst wieder im Krankenwagen zu mir gekommen“, versichert Hubert H.

Die Anklage legt dem Michendorfer zur Last, trotz deutlicher Zeichen von Unterzuckerung in seinen Citroen gestiegen zu sein. In der Arthur-Scheunert-Allee – in Höhe des Bahnhofs Rehbrücke – soll er über eine Verkehrsinsel gefahren und zwei Verkehrszeichen demoliert haben. Wenig später sei er über eine weitere Verkehrsinsel gefahren, danach mit einem BMW zusammengestoßen. Obwohl er die Unfälle bemerkt haben soll, setzte der Angeklagte seine Fahrt fort. Die wurde zunehmend amokartiger. Nur mit Glück und Geistesgegenwart gelang es mehreren Autofahrern, dem Auto von Hubert H., das ihnen im Gegenverkehr nahte – auszuweichen. Eine Opelfahrerin schaffte es nicht. Der Citroen des Angeklagten krachte in ihr Fahrzeug. Die Frau erlitt Schnittwunden und ein Schleudertrauma, ihr Auto Totalschaden.

„Mein Mandant war zum Tatzeitpunkt schuldunfähig“, erklärt der Verteidiger. „Ein Zuckerschock kann sich nach Stunden, manchmal aber auch schon nach Minuten ankündigen. Wenn er auftritt, ist alles zu spät.“ Der Angeklagte habe eindeutig gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimme, wirft die Richterin ein. Sonst hätte er vor Fahrtantritt keinen Traubenzucker zu sich genommen.

Julius J.* (27) und sein Beifahrer beobachteten die Horrorfahrt des Dachdeckers aus nächster Nähe. Erst waren sie im Auto vor ihm, später dahinter. „Er bewegte sich über beide Fahrspuren, manchmal kam er auch von der Straße ab. Schließlich fuhr er ausschließlich auf der Gegenfahrbahn“, erzählt Julius J. im Zeugenstand. Der junge Mann wählte die 110. Die Polizei forderte ihn auf, am Wagen des Angeklagten dranzubleiben. „Außerorts hat er die Geschwindigkeit dann massiv erhöht.“ Nachdem Hubert H. in den Opel raste, sei sein Fahrzeug am Ende einer Unterführung zum Stehen gekommen. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass er total neben sich stand. Als ich ihn aus dem Wagen gezogen hatte, wollte er als erstes eine rauchen“, erinnert sich der Zeuge.

„Der Angeklagte ist kein Verkehrsrowdy. An diesem Tag aber hat er andere Menschen und sich selbst gefährdet. Er war fahruntüchtig und hätte sein Auto stehen lassen müssen“, befindet die Staatsanwältin. (*Namen geändert.)

Gabriele Hohenstein

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