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Verhüllt vor den Fotografen. Er und seine Familie litten unter dem Überfall, sagte Marcus B. vor Gericht.

© dpa

Potsdam-Mittelmark: Fichtenwalder Zahnarzt beteuert seine Unschuld

43-Jähriger vor Gericht: Es geht um seinen fehlenden Finger und eine Versicherung über 850 000 Euro

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Beelitz/Potsdam – Die Blicke seien das Schlimmste. „Das Starren der Patienten auf meine linke Hand“, sagt Marcus B. Der Fichtenwalder Zahnarzt steht im Potsdamer Amtsgericht und verteidigt sich mit tränenerstickter Stimme. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm das Vortäuschen einer Straftat und versuchten Betrug vor. Im März vorigen Jahres soll sich der Pferdeliebhaber selbst den linken Zeigefinger abgeschnitten haben, um seine Versicherung zu betrügen. Der 43-Jährige hingegen spricht von einem brutalen Raubüberfall, der sein Leben und das seiner Familie auf den Kopf gestellt habe und seine berufliche und finanzielle Existenz bis heute bedrohe.

„Ich saß noch länger am Computer“, trägt Marcus B. am Dienstagvormittag im Verhandlungssaal aus seiner seitenlangen Erklärung das vermeintliche Geschehen vor. Als er an jenem Nachmittag des 26. März den Rechner ausschaltete und durch die Tür seiner Praxis in den Supermarkt im Haus gehen wollte, um Getränke und Hundefutter zu kaufen, soll ihm ein Mann gegen den Kopf geschlagen haben. B. sei getaumelt, die ungepflegten Täter hätten ihn zurück in die Praxis gedrängt. „Danach kann ich mich nur an meinen Finger zwischen der Schere erinnern“, sagt B. In einer Art Gartenschere hätte einer der zwei Räuber seinen Finger eingeklemmt, so führten sie ihn durch die Räume, forderten Geld, Gold und Medikamente. Nur ein paar alte Zahnkronen und 50 Euro habe der Arzt ihnen geben können. Völlig ansatzlos, beteuert B., hätten die Täter daraufhin den Finger abgeschnitten. „Der Schnitt an sich ging durch wie Butter.“ Das Blut sei im hohen Bogen gespritzt.

Mit dem abgeschnittenen Finger hätten die Räuber noch vor B.s Nase gewedelt, sagten etwas von Souvenir und verschwanden. Mit dem Finger. Er habe erst gar nicht registriert, dass es sein Finger war, sagt B., bis er den brennenden Schmerz bemerkte. Geistesabwesend sei er ins Bad gelaufen, habe die Wunde gewaschen, die Hand betäubt und abgebunden. „Ich stand völlig neben mir, das verwendete Werkzeug war definitiv nicht steril“, sagt B. Er ruft die Feuerwehr und schleppt sich in den Supermarkt unter seiner Praxis, wo er zusammenbricht.

Der Finger wurde bis heute nicht gefunden. Die Täter sollen ihn mitgenommen haben. Mülleimer und Gullys in der Nähe der Praxis am Marktplatz wurden untersucht. Sogar einen drei Kubikmeter großen Container, in dem die festen Bestandteile des Fichtenwalder Abwassers der Tatzeit gesammelt wurden, ließen die Beamten auskippen. Vergeblich. Selbst ein hochspezialisierter Spürhund konnte keine eindeutige Spur ausmachen, eine führte zwar bis zur Autobahnanschlussstelle Beelitz-Heilstätten – doch es war womöglich der Weg des Krankenwagens, in dem B. zur Notoperation gefahren wurde.

Über ein Jahr danach ist die Wunde verheilt. Der Zahnarzt ist wieder aktiv, weil er sonst kein Einkommen hätte. Doch die Patienten bleiben weg. „Ich hatte und habe kein Motiv für einen Versicherungsbetrug“, sagt B. Zu keinem Zeitpunkt sei er zahlungsunfähig gewesen. Mahnungen oder Unregelmäßigkeiten, auf die die Ermittler gestoßen waren, erklärte er mit mangelnder Buchhaltung. Die Unfallversicherung habe er wegen seines Reithobbys auf Drängen des Vaters abgeschlossen. Schon seine Frau habe sich beim Pferdesport schwer am Fuß verletzt. „Wir haben immer gut von meinen Einnahmen leben können“ – anspruchslos und zurückgezogen, sagt B. Es sei ein Zufall, dass die Versicherung erst wenige Wochen vor dem Überfall abgeschlossen wurde. Er wollte sich lediglich gegen einen Sportunfall absichern. Als die Täter in die Praxis kamen, habe die Versicherungspolice noch verschlossen in der Briefablage gelegen.

Es geht um insgesamt 850 000 Euro. Demnach hätten ihm bei Invalidität 600 000 Euro zugestanden sowie eine Versicherungsleistung von 250 000 Euro für einen nachgewiesenen Raubüberfall. Eine Summe, hoch genug, um die Praxiskredite ablösen zu können. Die Versicherungssumme wurde bislang nicht gezahlt.

Es wäre nicht der erste derartige Betrug: So verurteilte das Landgericht Würzburg 2003 zwei Männer zu je eineinhalb Jahren Haft, nachdem ein damals 28-Jähriger seinem Bekannten (58) auf dessen Wunsch mit einer Kettensäge Daumen und Zeigefinger abgetrennt hatte. Ein Chirurg aus Brandenburg stand in Verdacht, sich 2001 mit einer Motorsäge drei Finger abgeschnitten zu haben, um rund 2,1 Millionen Euro zu kassieren. Das Gericht sprach den Mann vom Betrugsvorwurf frei. Das Geld erhielt er trotzdem nicht.

Die Versicherungen sind für das Thema sensibilisiert. „In der Branche ist durchaus zu hören, dass der Verlust eines Fingers bei Ärzten deutlich öfter vorkommt als bei anderen Menschen“, sagte eine Sprecherin des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft. Hintergrund ist eine deutlich höhere Unfallversicherung bei Verlust des Körperteils als bei anderen Berufsgruppen. Mediziner hätten zudem Zugriff auf Betäubungsmittel, sagte die Sprecherin.

So wiesen die Ermittler im Fichtenwalder Fall in allen in der Praxis gefundenen Blutspuren ein Betäubungsmittel nach, dass sich B. nach dem Überfall selbst gespritzt haben will. Vor der Tür der Praxis haben die Ermittler allerdings Blut des Arztes ohne dieses Mittel gefunden. Inwieweit dies eine Schuld beweist, ist offen. Einem von der Verteidigung beauftragten Gutachter zufolge kann das Ergebnis auf einen Fehler bei der Untersuchung zurückzuführen sein. Für eine neue sei es mittlerweile zu spät. Am 23. April wird die Verhandlung fortgeführt. (mit dpa)

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