KulTOUR: Heißer Herbst in Werder
Ausstellung mit Wendekunst aus Ost und West im Kunst-Geschoss
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Werder (Havel) - In der Kulturstadt Werder ist zurzeit ordentlich was los. Zuerst eine Ton-und Kirschen-Premiere, dann die Eröffnung der Comédie Soleil, gleich darauf im „Kunst-Geschoss“ diese exzellente Ausstellung „Blick zurück nach vorn“ anlässlich von 20 Jahre Mauerfall. Kurator Frank ARATORA Weber, nach Bürgermeister Große „ein Glücksfall“ für die Stadt, fand diesen Titel im Gespräch mit der Filmemacherin Gitta Nickel, denn wie der Dramatiker John Osborne wollte man eben nicht „im Zorn“ zurücksehen.
Vor der Vernissage fand in der vollbesetzten Inselkirche eine Festveranstaltung mit dem ehemaligen sächsisch-anhaltinischen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner und der Gruppe „Keimzeit“ statt, dann schien es, als ob der gesamte Haufen das Schützenhaus erobern wollte. Kurz, es war am Sonntagabend proppenvoll in der obersten Etage.
Der stets ideenreiche Kurator hatte sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Dort, wo Stadtverordnete sich versammeln, hängte er fünfzehn Fotos Werderaner Häuser rund ums Jubiläumsdatum auf den Flur. Wie sie (die Bauten!) heute aussehen, wird absichtlich nicht gezeigt, es wäre nur billig. In der Galerie selbst ist eine Abteilung für das Rahmenprogramm reserviert. Zur Eröffnung sah man eine halbe Stunde Videoaufnahmen aus der unmittelbarsten Wendezeit.
Jeden Donnerstag gibt es hier kostenlose Filmvorführungen nebst Gespräch mit Gitta Nickel, Stefan Trampe, Rolf Losansky und Reinhard Holzhauer. Es wird auch ein Bildband von Martin Ahrends und dem Fotografen Joachim Liebe zum Thema vorgestellt. Das Wichtigste im „Kunst-Geschoss“ bleiben natürlich die Bilder.
Auch hier eine wunderbare Idee: Frank Weber hat jeweils vier bildende Künstler aus „ehemals Ost“ und „ehemals West“ sowie mit Walter Lauche einen Übersiedler von West nach Ost als Partner seines Rückblickens gewonnen. Es handelt sich durchweg um Werke, die zwischen 1988 und jenem Jahr 1993 entstanden, als nach der Vision von Walter Lauche Deutschlands Schutzengel streikten: Macht selbst weiter!, schienen sie zu sagen. Wie sie verschwanden viele der gezeigten Bildwerke bald in Depots.
Zwanzig Jahre später führt ausgerechnet Werder sie ins öffentliche Bewusstsein zurück. Ob sie dabei wirklich „keine Kunst für die jüngere Generation“ sein können, wie Frank Weber meint, ist nicht nur ob ihrer erkennbaren Frische zu bezweifeln. Zerstörte diese These nicht sein schönes Ausstellungskonzept?
Texttafeln berichten nun über Leben und Werk der Künstler, und wie diese Ausstellung „gemeint“ sei, deren „geografische Herkunft“ aber wird absichtsvoll verschwiegen. So kann Rolf Schuberts zurückkehrender Mose den Wendeleuten wie auch dem Gegenwärtigen seine alten Steintafeln vorhalten, Wolfgang Liebert seinen Anonymus bei abnehmendem Mond von Bild zu Bild schicken, oder Heinz-Detlef Moosdorf in einem skurrilen Linolschnitt den „rot-schwarzen Säger“ wieder sägen lassen. Axel Gudrum machte den damaligen Imperativ „go west!“ zu einem Maskenzug im Renaissance-Stil. Johanna Schoenfelder probierte in einer Farbradierung vierundzwanzigmal, das Brandenburger Tor neu zu interpretieren.
Wie doppelsinnig Günter Ihles „Die Kohle kommt“ werden sollte, kann man heute viel besser erkennen, damals verdüsterte noch echte das Stadtbild von Leipzig. Ernst Leonhardts „Grenzübergangsstelle“ soll außen vor nicht bleiben, noch weniger ARATORAS „Mitgift“ – besonders jenes 1988 im Auftrag der Evangelischen Kirche gemalte „Fenster mit Masken“, welches nach der Einheit an den Künstler zurückgegeben wurde. Dies und mehr ist auf dem real existierenden Sitzelement vom Palast der Republik wohl am besten zu bedenken.
Geöffnet bis 20. Dezember Donnerstag, Samstag und Sonntag von 13 bis 18 Uhr, Rahmenprogramm jeden Donnerstag um 19 Uhr im Schützenhaus. Näheres im Internet unter kunst-geschoss.de
Gerold Paul
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