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Potsdam-Mittelmark: „Ich habe Gott lange gesucht“
Holocaust-Überlebender Réuven Reiter berichtet Kleinmachnower Schülern von der Judenhatz der Nazis
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Kleinmachnow - Réuven Reiter, der als Kind noch Horst hieß, hatte mit seinem Bruder oft vor dem Hauseingang gesessen. Sie sahen anderen Kindern in der Straße beim Spielen zu. Manchmal lief ein Trupp Hitlerjungen vorbei und grölte: „Judenschweine!“ Einige warfen Steine. Solche Demütigungen nahmen die beiden Jungen lange schweigend hin, nur einmal platzte es aus ihnen heraus. „Christenschweine.“ Ein Nachbar zeigte sie an, schilderte der 84-Jährige gestern beim Zeitzeugengespräch im Evangelischen Gymnasium in Kleinmachnow vor Schülern der elften Klasse.
Auf dem Polizeirevier wurden die beiden Jungs verwarnt, ein Polizist ließ sie wissen, dass er im Wiederholungsfall die Gestapo informieren müsse. Auch in anderen Situationen hätten Polizisten ein Auge zugedrückt. Es habe in seiner Heimatstadt Chemnitz damals eine Reihe „anständiger Leute“ gegeben. Dieser Teil seiner Erfahrungen sei ihm wichtig und so erzählte Réuven Reiter auch vom Kaufmann und Gemüsehändler, ohne deren Hilfe die Familie vielleicht nicht überlebt hätte.
Réuven Reiter dürfte zu den letzten Holocaust-Überlebenden gehören, die noch aus eigenem Erleben aus dieser Zeit berichten können. Vor acht Jahren hat er das erstmals getan. „Das hatte die Amcha-Stiftung organisiert.“ Die Stiftung hat sich die psychosoziale Betreuung von Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen zur Aufgabe gemacht. Von ihr sei auch der Wunsch gekommen, der jungen Generation über die damaligen Geschehnisse zu berichten. Gemeinsam mit der Stiftung „Begegnungsstätte Gollwitz“ rief Amcha ein Tandem-Projekt ins Leben, das Großeltern-Enkel-Paare aus Deutschland und Israel zusammenbringt, um sich auszutauschen. Während seines einwöchigen Aufenthalts im Schloss Gollwitz erzählt Réuven Reiter nun auch an vier Schulen aus seinem Leben.
Die Kleinmachnower Gymnasiasten lauschten gestern interessiert seinen Worten: Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges seien Lebensmittelkarten eingeführt worden. „Juden stand nur die halbe Ration zu.“ Repressionen hatte es schon zuvor gegeben. So musste Réuven Reiter nach der zweiten Klasse die allgemeine Schule verlassen und ein Jahr lang warten, bis die jüdische Gemeinde eine eigene Schule eröffnete. Sein Vater, ein Ingenieur, verlor schon kurz nach Hitlers Machtergreifung seine Arbeit, fand aber wieder eine Stelle und machte sich später selbstständig. „Mein Vater war ein Erfinder, hatte mehrere Patente und eines davon erschien den Nazis nützlich, weshalb sie ihn einige Zeit in Ruhe ließen.“
Doch in der Pogromnacht holten sie auch ihn ab und brachten ihn nach Buchenwald. Schwer misshandelt war der Vater drei Wochen später heimgekehrt. Ein Arzt stellte einen schweren Nierenschaden fest, doch kein Krankenhaus nahm den Vater auf, weil er Jude war. Er starb unter schweren Schmerzen, erzählte der Sohn.
Mit der Pogromnacht begann die offene Gewalt gegen Juden und Réuven Reiter erinnerte sich, wie am nächsten Morgen eine Nachbarin aufgeregt schrie: „Euer Tempel brennt!“ Rasch fuhr der Junge mit seinem Tretroller zum Stephansplatz, wo die Synagoge in Flammen stand. Die Feuerwehr war da – allerdings nur, um ein Übergreifen der Flammen aufs Nachbarhaus zu verhindern. Auf dem Platz war eine Menschentraube versammelt, darunter einige jubelnde Hitlerjungen, während die Gesichter der Älteren ernst waren. Eine alte Frau, erinnert sich Reiter, sagte leise: „Dafür wird uns der Herrgott bestrafen.“
Ob er je am Glauben gezweifelt habe, fragte ihn ein Schüler. „Ja“, so die prompte Antwort, „ich habe Gott lange gesucht und suche immer noch.“ Er zeigte den Schülern ein altes Foto der Synagoge, für ihn einst eines der schönsten Gebäude in der Stadt. „Ich habe eine Woche lang geweint“, sagte der Mann, der als Jugendlicher Zwangsarbeit, Theresienstadt und Auschwitz überlebte.
Auf die Frage nach Rachegefühlen lächelte er fast schelmisch und erklärte: „Meine Rache ist, dass ich die Bildung, die mir die Nazis vorenthalten hatten, in Israel nachholte und es bis zum Bürgermeister gebracht habe.“ Und Réuven Reiter hat eine große Familie, sechs Kinder, achtzehn Enkel und fünfzehn Urenkel. Kirsten Graulich
Kirsten Graulich
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