KulTOUR: Jüdische Mutter Courage
Lesung der Memoiren von Glückel von Hameln
Stand:
Werder (Havel) - Das Werdersche „café olive“ auf der Insel gehört eher zu den unscheinbaren Leseorten der Stadt. Kürzlich erlebte man dort, wie trefflich sich Selbsterlebtes aus dem 17. Jahrhundert für heutige Zwecke ummünzen lässt. Im Rahmen einer „Blauen Stunde“ sollte das siebenbändige Memoirenwerk der Hamburger Ghettojüdin Glückel von Hameln vorgestellt werden.
Ingrid Kaehler, Schauspielerin und ehemalige Intendantin des „Jungen Theaters in Kreuzberg“, hat das umfangreiche Material ausgewählt und „dramatisiert“. Warum sie als Kennerin dieser Texte einer feministischen Pastorin aus Berlin den Prolog überließ, bleibt rätselhaft. Deren Blickwinkel strotzte nur so von Emanzenbewusstsein: Glückel wollte angeblich „die Gleichberechtigung der Frau“, „verabscheute männliche Bevormundung“ zugunsten „weiblicher Selbstbehauptung“, so war es den Ohren der fünfundzwanzig Gäste anempfohlen. Erstaunlich.
Denn als Ingrid Kaehler ihre Lesung dann begann und Marion Schwan dazu Israels Weisen auf zwei Saxophonen in sanften Jazztönen präsentierte, war von solcher Emanzerei nichts mehr zu hören. Viel allerdings davon, wie sehr sich die fromme Glückel um ihre zwölf Kinder bemüht und dennoch ein Leben lang sehr aufs Geld achtete. Sie kam aus guten Verhältnissen, ihr Vater verfügte immerhin über achttausend Reichstaler, ein Vermögen.
Mit vierzehn wurde sie verheiratet, wie damals üblich. Jakob, ihr Mann und „Hirte“, sorgte für sie, indem er mit Mancherlei handelte, „eben wie ein Jude, der von allem was nascht“. Er starb in ihrem 44. Jahr an Darmverschlingung. Vor ihr lag nun ein freiwilliges Witwendasein auf zehn Jahre, obwohl es an Heiratsanträgen nicht mangelte. Auch sie handelte mit Diamanten, gab Geld gegen Zinsen, hielt Geschäftsbeziehungen von Madrid bis nach St. Petersburg, konnte dabei Magd, Diener und Boten anstellen, trug dennoch viel Leid, wie sie ihren Kindern im vierten Buch berichtet. Eine Tochter war ihr gestorben, sie selbst im Kindbett erkrankt, und verweigerte alle Medizin: Entweder hilft Gott, oder nichts hilft.
Nach „dem Absterben“ ihres Gatten hatte sie 1691 mit dem Schreiben begonnen, nachts bei Kerzenschein, nach erledigtem Tagwerk, sieben Bände lang. Trotz schwerster Lebensumstände baute sie sich selbst wieder auf: „Was hilft aller Gram und Jammer. Gram schwächt den Körper, ein trauriger Körper kann den erhabenen Gott nur schlecht loben. Wer im Himmel sitzt, lacht!“
Ihr zweiter Mann, 1700 geheiratet, war Händler wie sie selbst. Er machte pleite. Zwar „schrieen“ seine Kreditoren, aber die Obrigkeit ging mild mit ihm um. Glückel erlebte die Pfändung. Beim Stadtgang wurde sie richtig gefilzt, damit sie nichts aus dem Hause schaffen könne. Tausend Reichstaler bekam noch ein Sohn zu ihrem Verdruss – sie selbst hatte fest mit diesem Gelde gerechnet. Trotz Ehevertrags war für sie hier gar „nichts zu kriegen“. Sie starb mit dem tröstenden Spruch „Wer im Leid stirbt, der stirbt ruhig“ 1724 in Metz.
Ingrid Kaehler las diese Texte mit aller Eindrücklichkeit, wie ein Suchen und Finden. Eine andere Auswahl hätte vielleicht ein anderes Licht auf diese geschäftstüchtige Jüdin geworfen, dennoch entstand das authentische Lebensbild einer „Mutter Courage des 17. Jahrhunderts“. Kein feministisches, sondern ein menschliches, mütterliches. Emanzipation ist eben nicht alles.
Die nächste Veranstaltung der Reihe „Blaue Stunde“ im „café olive“ ist dem Tiroler Holzschnitz-Genie Norbert Roth gewidmet. Karl-Heinz Barthelmeus hat ein Buch über ihn geschrieben, aus dem er am 5. Dezember vorlesen wird. Beginn ist um 19.30 Uhr, Am Markt 1.
Gerold Paul
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: