Potsdam-Mittelmark: Kampf um jede Stimme
Dem Stahnsdorfer Männerchor 1883 e.V. fehlen Mitglieder. In fünf Jahren ist er vielleicht verstummt
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Stahnsdorf - Singen? Zu Hause? Das fällt Bernhard Gäsert gar nicht ein. Ärger mit seiner Gattin will Gäsert nicht riskieren, er, der seit Anfang der 80er Jahre im Männerchor Stahnsdorf 1883 e.V. den ersten Bass singt. Klingt ein wenig paradox. Da singt einer seit 20 Jahren mit Leidenschaft und in den eigenen vier Wänden erlaubt sich Bernhard Gäsert höchstens mal ein Pfeifen oder ein „leises Murmeln zum Üben“ wie er es nennt. Wenn er aber begründet, warum er daheim keine volkstümlichen Weisen schmettert, dann verzichtet man schnell auf die anfangs geplante Bitte um eine gesangliche Kostprobe. Doch dazu später.
Bernhard Gäsert hat ein Anliegen. Der 63-Jährige will auch noch in den nächsten Jahren dem „Chorgesang fröhnen“. Doch die Herren vom Stahnsdorfer Männerchor plagt ein biologisches Problem. „Wir sind derzeit 34 aktive Sänger und im Durchschnitt über 60 Jahre alt“, sagt er. Der jüngste ist 50, der älteste 74. Gäsert lehnt sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück und fügt an: „Wir sind überaltert.“
Deutschlands Männerchören sterben die Mitglieder weg und Nachwuchs, soweit man davon bei einem durchschnittlichen Eintrittsalter um die 50 sprechen kann, ist immer schwerer zu finden. Im 19. Jahrhundert in fast jedem größeren Ort gegründet, galten die Gesangsvereine lange als gemütlicher Hort zwischen Liedvortrag und Geselligkeit. Doch ab den 1970er Jahren zeichnete sich langsam ab, dass nicht mehr jedem älteren Herren der Sinn nach vielstimmigem Gesang steht. Und seit gut zehn Jahren sehen die Männerchöre immer banger in die Zukunft.
Warum die Lust am deutschen Volkslied in den vergangenen Jahren so rapide abgenommen hat, darüber kann Gäsert nur Vermutungen anstellen. „Viele haben andere Interessen. Mancher ist vielleicht auch nur zu faul, jede Woche einmal zur Probe zu gehen.“ Was aber die Zukunft des Stahnsdorfer Männerchors betrifft, da lässt Gäsert Fakten sprechen. „Wenn wir keine neuen Mitglieder finden, dann ist in spätestens fünf Jahren Schluss.“
Wenn Gäsert, ein großer Mann mit breitem Brustkorb, weißem Bart und von einnehmender Gemütlichkeit von den Goldenen Zeiten der Gesangsvereine vor und nach dem Zweiten Weltkrieg schwärmt, könnte man glatt glauben, er hat sie selbst erlebt. Die Gesangsproben, an die sich regelmäßig manch exzessive Kneipentour anschloss, Skatabende, viele Auftritt, volle Säle. Damals hatte der 1883 gegründete Stahnsdorfer Männerchor über 50 „aktive Sänger“, wie es in der Chorfachsprache heißt. Hinzu kamen etwa 40 „passive Mitglieder“, die den Verein finanziell unterstützten. „Jetzt haben wir nur noch ein passives Mitglied“, sagt Gäsert. Und das, auch schon im hohen Alter, werde gehegt und gepflegt wie ein seltenes Pflänzchen. Doch trotz der nicht gerade idealen Bedingungen tritt der Stahnsdorfer Männerchor auf, wann immer sich eine Gelegenheit bietet.
Die Weihnachtszeit ist eine gute Zeit für die singenden Herren aus Stahnsdorf. Weihnachtsmärkte, Seniorenweihnachtsfeiern, Auftritte in Krankenhäusern – derzeit sind sie oft unterwegs. Und wenn sie singen, dann singen sie vor einem Publikum, dass fast immer so alt ist wie sie selbst.
Gefragt, wie viele Lieder der Stahnsdorfer Männerchor denn beherrscht, schaut Gäsert in einem seiner dicken Ordner nach. Hier sammelt er alles, was den Gesangsverein betrifft. Ein kleines Archiv voll Zeitungsartikeln, Auftrittsankündigungen und Bildern. Ein beruhigender Blick in eine geordnete Vergangenheit, wo die Zukunft doch so ungewiss ist.
Bernhard Gäsert zieht einen Zettel aus einer Klarsichthülle und zählt. „164 Lieder“, sagt er. „Frühmorgens, wenn das Jägerhorn“, „Der Lindenbaum“, „Am Brunnen vor dem Tore“ – Gäsert spricht von „wertvollem Gesangsgut“. Aber pro Auftritt werden höchstens 25 Lieder gesungen. „Dann ist die Kehle zu.“ Aber ein guter Chorsänger weiß dem vorzubeugen. „Kräftig trinken“, sagt Gäsert. Und denkt da auch an Bier. Doch unter dem neuen Chorleiter Martin Zierenberg, der seit 2002 den Takt vorgibt, soll vor der Probe kein Gerstensaft mehr die Kehlen befeuchten. Gäsert bedauert das. Aber Disziplin kann nicht schaden. Denn manche Anekdote aus früheren Zeiten handelt von Sangesbrüdern, die schon vor der Probe so tief ins Glas geschaut hatten, dass an singen nicht mehr zu denken war.
Doch Geselligkeit, das ist Gäsert wichtig, darum betont er es immer wieder, komme beim Stahnsdorfer Männerchor nicht zu kurz. Geburtstage, Herrentagsfeier, Auftritte und als Höhepunkt das jährliche „verlängerte Chorprobenwochenende“ außerhalb von Stahnsdorf. „Natürlich immer in der Nähe einer Gastwirtschaft“, so Gäsert. Und nach einem kurzen Augenblick, den Gäsert nutzt, um ein paar angenehmen Erinnerung nachzuhängen, fügt er an: „Wir müssen ja schließlich irgendwo übernachten.“
Jeder, der also Lust habe zu singen, den will Gäsert erreichen, ob er nun in Stahnsdorf, Kleinmachnow, Teltow oder Potsdam wohnt. „Je jünger, umso besser. Einfach vorbeischauen“, sagt er. Der Chorleiter werde dann mit dem Neuling eine kleine Privatstunde nehmen, schauen in welcher Tonlage dieser singt. Und wer sich nicht ganz sicher ist, ob seine Stimme auch für die musikalischen Ausflüge tauge, der solle trotzdem kommen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals jemanden nach Hause geschickt haben.“
Und das Üben? Gäsert winkt ab. „Da reicht die wöchentliche Chorprobe, immer mittwochs, im Gemeindehaus.“ Denn für die Ohren der Familienmitglieder sei es nicht sehr angenehm, wenn ein Chorsänger zu Hause übe. „Im Chor singen wir mehrstimmig. Das klingt, weil alle Stimmen zusammen kommen.“ Aber wenn einer allein singt. Gäsert wiegt bedenklich den Kopf. Da sei schnell die Schmerzgrenze erreicht.
Bernhard Gäsert schaut aus dem Fenster, wo der Rosenweg langsam im Dunkel eines regnerischen Novemberabends verschwindet. Wenn er an die Zukunft des Männerchors denkt, sind die Aussichten ebenso trübe. Doch Gäsert gibt sich optimistisch. Denn wer singt, der hat Hoffnung.
Informationen zum Stahnsdorfer Männerchor unter Tel.: (033203) 22693, (03328) 472243 oder (03329) 62095.
Dirk Becker
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