KulTOUR: Melone mit Krönlein
„Ton und Kirschen“-Theater zeigt König Ubu
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Werder (Havel) - Das erste Wort dieses Stückes war noch vor einhundert Jahren so stark, dass die gutbürgerlichen Zuschauer die Premierenveranstaltung Ende 1896 mitten in Paris gleich reihenweise verließen. Heute ist dies „merde!“ von „der Kultur“ längst verinnerlicht worden. Deshalb gehört es auch an den Beginn der neuen Ton-und Kirschen-Inszenierung von Alfred Jarrys „König Ubu“, die am Freitag um 20 Uhr auf dem Gelände des Freigutes Werder Premiere haben wird.
Schon vor zwei Jahren hatte der neue, kunstfreundliche Eigentümer des Lendelhauses dem polyglotten Wandertheater ein Nebengelass zur festen Spielstätte ausgebaut, Miete bezahlbar. Die Truppe ist in ihrer jetzigen Gestalt ja auch gerade volljährig geworden. Zum Pressetermin vorab wurde gestern noch gezimmert und gehämmert, geprobt und korrigiert, dann aber kam das illustre Pärchen Vater und Mutter Ubu (Margarete Biereye, David Johnston) auf die Bühne, beide langnasig, er ein kurzbeiniger Dickpummel mit weißen Unterkleidern. Man sah, wie die „Mutter und Urhexe“ dem Gatten ein Krönlein auf die Melone setzt. Es ist nicht die erste Szene im Stück, welches immer dort spielt, wo man sich gerade befindet, Jarry nannte das einfach Nirgendwo oder „Polen“.
Der Protagonist ist ein Hanswurst, ein Großprotz, ein wildgewordener Kleinbürger und Korrumpator seines Staatsvolkes, ein skrupelloses Nichts von beachtlicher Dimension. Mithin eine Figur, wie ihn die Theatergeschichte kein zweites Mal kennt.
Rezeptiv war Ubu schlichtweg der Antiheld auf dem Anti-Theater, eine große Erfindung mit nachhaltigen Folgen für die antibürgerliche- oder Avantgarde-Kunst am Ende der Belle Epoque. Picasso, Braque, Yeats, Apollinaire, so viele zehrten davon. Drei Dinge nämlich machen diesen ewig fluchenden Wursttyrannen erst möglich: die Pfuistik als Minimierung des eignen Denkvermögens (woanders taucht „der enthirnte Ubu“ auf) die Pfuinanz „als Akt materieller Selbstbefriedigung“, „Scheiße“ drittens meint alle bürgerlichen Konventionen. Aus Jarrys „Ubu“-Texten entwickelte sich damals sogar eine Art Kult – der „Ubuismus“.
Brauchte es eigentlich mehr, um den Theaterraum vom Lendelhaus zu stürmen? Achtzig Gäste werden für jede Vorstellung eng und kuschelig platziert, neun Aufführungen an den kommenden Wochenenden dürften das erste Interesse wohl einigermaßen abdecken. Trotz des gewaltigen Kanonenofens wird empfohlen, Wärmendes mitzubringen.
Warum „Ubu roi“? Margarete Biereye sah in diesem Stück ein barockes Muster: „Ubu ist das freigesetzte Monster, das im Menschen steckt.“ Genial, so kommt kein Zuschauer unschuldig davon, trüge er auch Melone. Renaissancemusik und selbstgenähte Kostüme, eine Puppenbühne zur Massakrierung des Adels, phantasievolle Einfälle und Maschinenhilfe wie immer, eine bis ins Groteske erweiterbare Spielweise – „das Stück ist wie für uns geschrieben“, schwärmt die charmante Schauspielerin. Also sieht man hier das Innerste nach Außen gekehrt und sichtbar gemacht, fürchte dich, Zuschauer! Sagte Georg Büchner nicht, der Mensch sei ein Abgrund? Nochmal Jarry: „Was die kleinen Kinder zum Lachen bringt, macht den großen Leuten Angst“. So sei es.
Vorstellungen an allen Wochenenden bis zum 8. November freitags und samstags 20 Uhr, sonntags 16 Uhr, Lendelhaus, Insel Werder
Gerold Paul
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