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Kindheitsforscher im Interview: "Missbrauchsvorwurf ist der Supergau"
Der Kindheits- und Jugendforscher der Universität Potsdam, Dietmar Sturzbecher, über die Folgen eines Missbrauchsvorwurfs in Kitas und wie die Beteiligten damit umgehen sollten.
Stand:
Herr Sturzbecher, jüngst gab es in einer Michendorfer Kita einen Missbrauchsverdacht gegen einen Mitarbeiter. Die Polizei ermittelt noch bis Monatsende, dann soll der Fall zur Staatsanwaltschaft. Was passiert, wenn so ein Verdacht im Raum steht?
Ein Missbrauchsvorwurf ist für die Einrichtung, die Eltern und die beschuldigten Mitarbeiter der Supergau. Alle Beteiligten gehen ja bei der Betreuung davon aus, dass das Kind in guten Händen ist. In dieser Situation ist es für Eltern außerordentlich schwer zu ertragen, dass sie ihr Kind in die Kita bringen und es dort vielleicht misshandelt oder missbraucht wird.
Herrscht in der Kita unter den Kollegen nicht auch große Unsicherheit?
Der Umgang damit ist von Einrichtung zu Einrichtung sehr unterschiedlich und hängt davon ab, ob der Vorwurf einen Mitarbeiter trifft, der im Team gut integriert ist, oder jemanden, der eine Außenseiterstellung hat. Ist der Kollege gut integriert, gibt es häufig einen Schutzreflex der Kollegen. Da werden Vorwürfe ohne Bedenken abgewehrt, es wird dann vielleicht auch nicht versucht, ihnen weiter nachzugehen. Wenn Sie aber einen Kollegen haben, der im Team wenig Rückhalt hat und den man schon immer „in Verdacht“ hatte, dann ist die Bereitschaft hoch, ihn vorzuverurteilen. Für den Träger ist das alles eine Riesenherausforderung, weil er sich plötzlich in einer Situation befindet, auf die er in der Regel nicht vorbereitet ist, mit der er aber dennoch hochprofessionell umgehen muss, um das Wohl der Kinder nicht zu gefährden und eine Stigmatisierung zu vermeiden.
Stigmatisierung von wem?
Sowohl der Einrichtung als auch des Beschuldigten. An dieser Stelle muss man aber auch sagen, dass solche Vorwürfe oftmals einer realen Grundlage entbehren. Jemand, der unberechtigt beschuldigt wird, leidet besonders darunter. Für ihn kann es das Aus seiner Karriere bedeuten, das soziale Umfeld kann sich von ihm entfernen. Oft bleibt nur noch die Möglichkeit, den Beruf aufzugeben und wegzuziehen. Kurzum, ein Missbrauchs- beziehungsweise Misshandlungsvorwurf ist eines der schlimmsten Ereignisse, die in der Kindertagesbetreuung auftreten können.
Es gibt neben körperlichen auch seelische Misshandlungen – wie können Kitas mit dieser Form von Gewalt umgehen?
Das ist fast noch schwieriger, weil seelische Misshandlung schwer zu beobachten ist und die Folgen und Wirkungen weitgehend versteckt bleiben. Es hängt auch vom einzelnen Menschen ab, ob eine bestimmte Bemerkung verletzend wirkt oder als Normalität durchgeht. Daher ist es sehr schwierig, mit derartigen Mobbingvorwürfen umzugehen. Das einzige, was sie dagegen tun können, ist ein Klima zu schaffen, in dem man sehr intensiv darauf hört, was die Kinder fühlen und denken. Da haben wir seit vier Jahren mit dem Bundeskindeschutzgesetz eine rechtliche Verpflichtung, dies zu tun.
Sie haben eine spielbasierte Kinderbefragung entwickelt, die erfasst, wie Kinder das Verhalten ihrer Erzieher erleben. Hilft es, um frühzeitig Missstände aufzudecken?
Auf jeden Fall. Aber ich muss etwas ausholen: Vor nicht allzu langer Zeit hat man noch geglaubt, dass man Kinder nicht zu ihrem Alltagserleben befragen kann, nur zu einer speziellen Situation. Diese Ansicht ist falsch – es ist genau umgekehrt. Entwicklungspsychologisch gesehen, eignen wir uns die Welt an, indem wir Gedächtnismuster von unserem Alltag anlegen. Jüngere Kinder, die die Welt gerade entdecken, tun das sehr intensiv. Deswegen verlieren Erwachsene meist beim Memory-Spiel gegen Vorschulkinder. Das ist der Weg: Man merkt sich bestimmte Handlungsmuster und typische Rahmenbedingungen, um die Welt zu „scannen“ und „in den Kopf“ zu kriegen. Deswegen können Kinder genauso gut wie Erwachsene beurteilen, wie sie im Allgemeinen behandelt werden.
Wäre Ihr Befragungsinstrument nicht auch etwas für die Polizei?
Im Falle von Misshandlungen oder Missbrauch ist es deutlich schwieriger, Kinder zu befragen. Das liegt daran, dass jüngere Kinder im Vergleich mit älteren Kindern und Erwachsenen sehr suggestibel sind. Man kann ihnen also durch falsche Befragungstechniken leicht etwas einreden. Es gibt ein Experiment aus der Fachliteratur, das besonders eindrücklich ist. Dort wurden 13 Vorschulkinder von einem Babysitter betreut. Im Anschluss kam ein verkleideter Polizist in die Familie und hat die Mutter im Beisein des Kindes informiert, dass man gehört habe, dass schon mal etwas „mit der Babysitterin passiert“ sei. Die Mutter war bei dem Experiment eingeweiht. Der Polizist gab keine konkreten Infos, sondern sagte nur, dass „schon einmal etwas Schlimmes vorgekommen“ sei. Von 13 Kindern haben zwei dann sehr genaue Infos über Misshandlungen bei ihrer Betreuung durch den Babysitter gemacht – sogar sehr detailliert – obwohl nachweislich gar kein Missbrauch beziehungsweise keine Misshandlung stattgefunden hatte. Das zeigt, wenn man Kinder falsch oder mehrfach befragt, läuft man große Gefahr, unzuverlässige Infos zu bekommen. Dies ist zudem oft schwer zu erkennen, weil die Konkretheit der Angaben für ihre Glaubwürdigkeit spricht.
Warum?
Das liegt zunächst einmal am Befragungsdruck. Wenn die Kinder merken, dass dem Erwachsenen die Infos nicht reichen oder sie nicht in sein Konzept passen, dann wollen sie ihn zufrieden stellen, indem sie Details erfinden. Damit steigt der Befragungsdruck. Das passiert, je öfter sie fragen. Das zweite ist eine Besonderheit, die man wissen muss: Wenn sie W-Fragen wie „Wer? Wann? Wo? Womit?“ stellen, dann kriegen sie von Kindern wahrscheinlich sogar zuverlässigere Infos als von Erwachsenen, weil die Kinder noch nicht täuschen wollen oder können. Wenn sie aber Kindern Fragen stellen, die eher mit „Nein“ zu beantworten sind, dann kann das „Nein“ drei verschiedene Bedeutungen haben: Ich will nicht antworten, ich weiß es nicht, oder es heißt wirklich „Nein“. Wenn sie also nicht professionell fragen, dann bekommen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unzuverlässige und unglaubwürdige Aussagen.
Was heißt das für die Polizeiarbeit?
Mehrfachbefragungen sind dringend zu vermeiden. Mit jeder Wiederholung werden die Ergebnisse unzuverlässiger. Kinder sollten nur von Leuten gefragt werden, die speziell dafür geschult sind. Das ist aber häufig leider nicht so. Und das ist auch die Krux, die dazu führt, dass solche unprofessionell erreichten Befragungsergebnisse im gerichtlichen Verfahren zerrieben werden. Es gibt einerseits Opfer von Falschbeschuldigungen aufgrund unzuverlässiger Kinderaussagen. Andererseits bleiben viele Täter ungeschoren, weil ihnen die Taten mit erkennbar suggestiven Befragungen nicht nachgewiesen werden können.
Das Bundeskinderschutzgesetz sieht vor, dass Kitas Schutzkonzepte für den Fall der Fälle haben sollten. Warum haben nur wenige Kitas bisher so etwas?
Wir dürfen nicht vergessen, dass Papier und auch das Recht zuweilen sehr geduldig sind. Die pädagogischen Einstellungen zu Gewalt und Misshandlungen als pädagogisches Mittel ändern sich langsam und eher von Generation zu Generation. Überlegen Sie mal, wo wir herkommen. Die allermeiste Zeit, in der es Menschen gab und gibt, wurde das Gros der Kinder als etwas Unvermeidbares angesehen. Sie wurden ignoriert oder erzogen, in dem man sie geprügelt hat. „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ war die Regel, prügelnde Eltern und Erzieher hatten und haben daher meist kein Unrechtsbewusstsein. Und das muss man in Rechnung stellen und anerkennen, dass sich inzwischen sehr viele Eltern und Kita-Teams Gedanken zum Thema „Gewalt in der Erziehung“ machen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Erstellen von Konzepten zum Kinderschutz in den Kitas Zeit braucht und nur in gemeinsamer Beratung im Team und unter Einbeziehung der Eltern erfolgen kann. Es soll diese Konzepte am Ende ja nicht nur auf dem Papier geben, sondern sie sollen umgesetzt und gelebt werden. Die gute Nachricht ist also, dass wir auf dem richtigen Weg sind und vorankommen. Das zeigt auch der sprunghafte Anstieg der Zahl der gemeldeten Missbrauchsfälle: Die Gesellschaft ist für das Thema sensibilisiert.
Dietmar Sturzbecher (62) ist Professor für Familien-, Jugend- und Bildungssoziologie an der Universität Potsdam. Er berät regelmäßig die Landesregierung. Mit ihm sprach Eva Schmid
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