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Potsdam-Mittelmark: Mit dem Herzen im Lendelhaus

Johanna Beyer lebte über 40 Jahre auf dem alten Freigut in Werder – und hofft mehr denn je auf eine Wiedergeburt

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Werder (Havel) - Viele Werderaner bangen, wie es mit dem Lendelhaus – der größten Brache auf der Inselstadt von Werder – weitergeht, nachdem Investor Harald Dieckmann seine Pläne für eine Mischung aus Wohnen, Gewerbe und Kultur nicht weiterverfolgen kann (PNN berichteten). „Ich darf es subjektiv sehen: Schade, dass gerade Herr Dieckmann aufhört“, sagt Johanna Beyer. Der kultursinnige Mann ist ihr sympathisch.

Beyer ist mit ehemaligen Freigut in besonderer Weise verbunden: Die Meteorologin in Rente und Stadtführerin kennt es seit ihrer Geburt und wohnte über 40 Jahre im Lendelhaus. Sie lädt den Ort mit Erinnerungen auf. Ihre Eltern waren seit Ende der 20er Jahre in dem Obstverarbeitungsbetrieb beschäftigt, der auf dem ehemaligen ritterlichen Freigut errichtet worden war. Gerade arbeitslos geworden, hatte Vater Fritz bei Friedrich Wilhelm Lendel eine neue Stelle gefunden. Am Tag seiner Kündigung ging er an der Föhse spazieren, wo ihn ein Neffe Lendels ansprach, der als Meister in der Firma arbeitete. Tags darauf begann der Schlosser seine Tätigkeit in der „Saftfabrik“. Mutter Margarete wurde 1928 von Lucie Lendel, der zweiten Ehefrau des Fabrikanten, per Handschlag als Hausgehilfin angestellt.

Hier lernten sich beide kennen, und sechs Jahre nach der Verlobung „musste geheiratet werden“. Als ob es die normalste Sache wäre, richtete Lucie Lendel die Hochzeit aus. Später sagte Mutter Beyer bei der Betrachtung des Brautbildes: „Schau ganz genau hin! Die Johanna wollte da auch schon dabei sein.“ Und nach der Geburt 1935 wurde die nunmehrige Chefin Taufpatin, und das „nicht nur auf dem Papier, sondern gelebt.“

Fortan schob Margarete Beyer den Kinderwagen von der Wohnung in der Kemnitzer Straße 81 zum Lendelhaus, stellte ihn im Hof unter den Nussbaum, wo heute der Schornstein steht, und begann ihre Arbeit. Als das Mädchen den Kindergarten besuchen sollte, hat es bitterlich geweint und gezittert. Die Mutter fürchtete, zu Hause bleiben zu müssen, worauf Frau Lendel meinte: „Na, Gretchen, bringen Sie sie doch weiter mit hierher.“ So kam es, dass Johanna Beyer „immer hier war“.

Über den 1935 verstorbenen Fabrikanten erfuhr Johanna vieles aus Erzählungen. Nachdem Lendel Ende der 20er Jahre erblindet war, begleitete ihn eine Gesellschafterin auf seinen Spaziergängen und las ihm vor. Aber auf dem Bösendorf-Flügel spielen, rechnen und den Betrieb in Gang halten konnte er ohne Hilfe. Vater Beyer erzählte: „Der Chef stand immer am Türpfosten und hat gerechnet.“

Lucie Lendel trug viel zur Erziehung des Mädchens bei. So wurde es hingewiesen, nicht „Äh“ in seine Erlebnisse einzuflechten, denn wer „Äh“ sagt, habe nichts zu sagen. Bei Ausfahrten mit der Kutsche war Johanna mit von der Partie und sang gemeinsam mit ihrer Taufpatin.

1945 bezogen sowjetische Soldaten den vorderen Teil des Lendelhauses und befahlen, Warenje (dicke Konfitüre) und Sauerkraut herzustellen. Zu hungern brauchte niemand. Die aus Norddeutschland stammende Chefin sagte: „Kinnings, wir haben Kohle, Kohl, Salz, Obst und Zucker. Was mir sonst noch fehlt, das sage ich dem Kommandanten, dann bekomme ich es auch.“ Als die Produktion wieder normal lief und alles voller Obst stand, meinte Mutter Beyer: „Warte mal, bis alle weg sind, dann holen wir uns was.“ Der Eigenbedarf war quasi Teil des Lohns.

1951 musste Frau Lendel im Zuge der „staatlichen Wohnraumlenkung“ Wohnraum abtreten. Mit dem Wissen um ihre Rolle in der Lebensmittelproduktion stellte sie eine Bedingung: „Ja, ich gebe ab, aber nur an Gretchen!“ Da willigte die Stadt ein, und Familie Beyer zog ins Stadtpalais am Rande des Firmengeländes, das eigentliche „Lendelhaus“ . Bei gemeinsamer Küchennutzung wurden Schlaf- und Esszimmer der Unternehmerin zur Wohnung der Beyers.

Im Schlafzimmer stand ein Tresor, in dem Frau Lendel Silberzeug und Schmuck aufbewahrte. Bei Bedarf sagte sie zu Mutter Beyer: „Jetzt muss ich mal in ihr Schlafzimmer gehen, Gretchen.“ Den Tresor gibt es heute noch, nur der Schlüssel fehlt. Zum Geburtstag der Chefin im November wurden jedes Mal Sessel aus dem Herrenzimmer in den Flur gebracht, vor den Kamin mit den Kacheln aus friderizianischer Ära gestellt und dieser angeheizt. Der zog zwar prima, da es aber keine weitere Heizung gab, blieb es letztlich kalt. Dann hieß es bei Familienfeiern: „Tante Lucie, vorne brät man, hinten friert man.“

Als der DDR-Staat den Übergang der Firma in einen volkseigenen Betrieb forderte, ging Lucie Lendel nach Westberlin. Doch weil qualifizierte Führungskräfte im Lebensmittelbereich rar waren, wurde sie zurückgeholt und nahm staatliche Beteiligung auf. Mit feinem Humor verkündete sie: „Kinnings, ich bin jetzt Mieter bei mir selber. Und wenn was am Haus kaputt ist, muss es der Staat bezahlen.“

Johanna Beyer erinnert sich auch an den Kutscher und seine Wohnung, an die Katzen, die den Haferboden mäusefrei hielten, an die Hunde Axel und Asta, wie die Toreinfahrt an der linken Seite des Wohnhauses abgerissen wurde, damit die Containerfahrzeuge passieren konnten und die Robinien an der Freitreppe weichen mussten. Als Lucie Lendel 1964 starb, erhielt sie einen weiteren Raum, das „Jungmädchenzimmer“. Nachdem 1986 auch der Vater gestorben war und die Gebäude 1993 unter Denkmalschutz kamen, ist sie „im Guten“ ausgezogen. Rückblickend sinniert die Rentnerin über ihr Leben im Lendelhaus: „ ach, das war eigentlich schön Ich habe hier bewusst gelebt!“ Und ebenso bewusst verfolgt sie die schwierige Wiedergeburt des Anwesens, denn „mein Herz bleibt immer hier!“

Josef Drabek

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