Von Kirsten Graulich: Paradies der Begegnungen
Harald Kretzschmar stellte in Kleinmachnow sein neues Buch vor
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Kleinmachnow – Der Künstlerort Kleinmachnow lässt sich nicht einfach so in das brandenburgische Koordinatensystem zwischen Potsdam und Berlin einspannen, sondern vielmehr in die Dimension Europa. Mindestens. Das ist nun auch auf 285 Seiten dokumentiert im neuesten Buch des Autoren und Karikaturisten Harald Kretzschmar, selber seit 50 Jahren im Ort ansässig und somit profunder Kenner des Kulturbiotops. „Paradies der Begegnungen – Der Künstlerort Kleinmachnow“, so der Titel des Buches, das jüngst im Verlag Faber & Faber erschien und am Freitag im Bürgersaal rund 300 Gästen erstmals vorgestellt wurde.
Nach erstem Durchblättern meint man, ein Kompendium in der Hand zu halten, doch schon beim Hineinlesen entdeckt man: es ist ein Geschichtenbuch. Eines über die eigenwilligen Bewohner, deren Kommen und Gehen Kleinmachnow auch einen Hauch von Weltläufigkeit verdankt.
Oft war die Verweildauer nur kurz, wie bei dem Bildhauer René Graetz und der Illustratorin Elizabeth Shaw. Beide kamen im Herbst 1946 mit anderen Emigranten aus London nach Berlin und nach der Währungsunion in die sowjetische Zone nach Kleinmachnow, „wo unser Geld, das wir verdienten, gültig war ...“. In Kleinmachnow trafen sie den Musiker Ernst Hermann Meyer und seine englische Frau Marjorie, die sie wiederum mit dem Musikwissenschaftler Nathan Notowicz und dessen Frau Ann aus Holland bekannt machten.
Künstler von überall her gaben sich im Ort die Klinken in die Hand wie im Haus am Zehlendorfer Damm 112. Dort wohnten nach dem Auszug des Ehepaares Graetz-Shaw der Pianist Eberhard Rebling und seine Frau, die Tänzerin und Sängerin Lin Jaldati. Nicht unweit davon lebte ab 1962 Elena Liessner Blomberg in der Geschwister-Scholl-Allee 53. Die 1897 in Moskau geborene Künstlerin griff im Rentenalter wieder zu Pinsel und Farben, Nadel und Schere. Eines Tages schenkte sie einige ihrer Zeichnungen einem kleinen Mädchen, das sie beim Spazieren gehen kennengelernt hatte. Das Kind pinnte die Blätter an seine Zimmerwand – und die Erwachsenen staunten. „Wer hat dieses Wunderwerk geschaffen?“, fragten Christa und Gerhard Wolf, die gerade bei Sybille und Karl-Heinz Gerstner zu Besuch waren. „Am nächsten Tag ist die Entdeckung Frau Blombergs durch die Wolfs perfekt. Bald stehen sie auf vertrautem Fuß miteinander“, beschreibt Kretzschmar die Begegnung.
Harald Kretzschmarlässt auch die Zeiten lebendig werden, in denen Namen wie der des Komponisten Arnold Schönberg und die Schriftstellerin Lily Braun den Ruf der Künstlerkolonie begründeten.
In späteren Jahren stellten Schauspieler laut Telefonverzeichnis die größte Bevölkerungsgruppe in Kleinmachnow dar. Einer von ihnen, Fred Mahr, ein waschechter Bajuware kam in den 50er Jahren nach Kleinmachnow. Der Schauspieler und Regisseur stand der Familie Korbschmitt beim Kleinmachnower Zimmertheater bei, das 1964 erstmals auftrat. Zu jener Zeit war der Künstlerort bereits eine „Insel der Unseligen, was ihre Verbindung nach außen betraf“, merkt Kretzschmar an. So wie er mit wenigen Strichen Köpfe aufs Papier bringt, gelingen ihm auch schreibend treffsichere Abbilder der Zeiten und das mit souveränem Witz.
Eine Geschichte in dem vorgestellten Buch handelt von der Puppengestalterin Emma Maria Lange, die 1964 in die Medonstraße zog, wo die Mauer begann, hinter der oft Hundegebell ertönte. „Das Hungergeheul der Wachhunde. Die Puppen-Lange (so wird sie längst liebevoll genannt) ist Tierfreundin. Man glaubt es kaum, sie bohrt ein Loch in die Mauer und schiebt Hundefutter durch. Als das ruchbar wird, ist sie um kein Wort verlegen und setzt die Ablösung des tierquälerischen Hundeführers durch.“ Es sind teils komische, skurrile, aber auch tragische Situationen, die in diesem Buch die Zeiten zum Leuchten bringen. Gleichzeitig ist es ein mutiges Buch, das erstaunliche Antworten gibt auf deutsche Lebensfragen.
Kirsten Graulich
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