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Blick vorbei. Die Eisverkäuferin und die Alte mit Klappstuhl.

© Dieter Leßnau

KulTOUR: Spiegelbilder des Reisens

Von Riga bis Antwerpen: „Statt Ansichten“ des Teltower Künstlers Dieter Leßnau 

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Teltow - Frisch geschnittene Korbweiden spiegeln sich im Frühjahrshochwasser der Havel. Eine Großstadtstraßenszene, vielleicht in Brüssel oder Helsinki, spiegelt sich im Schaufensterglas einer Nobelboutique. In den todtraurig-wässrigen Augen der jungen Bettlerin zu Amsterdam spiegelt sich das ganze Elend dieser todkranken Welt. Ihr Blick fleht, leidet. Spiegelbilder, Spiegel-Sichten bietet Dieter Leßnaus Fotoausstellung im Gebäude der Teltower Eonedis reichlich. Vielleicht sogar Spiegel-Welten, man weiß ja nie so genau, wo rechts und links ist, innen und außen.

Leßnau nennt diese Sammlung von Schwarz-Weiß und Farbfotos der letzten zwei, drei Jahre in angedeuteter Kryptik „Statt Ansichten“. Meist sogar noch analog aufgenommen, sind es vorwiegend Moment-Aufnahmen seines Reisens, nah wie in Ruhlsdorf und Potsdam, fern, weil Riga und Antwerpen dann genauso dazugehören wie Prignitz und Prerow.

Der bewusste Verzicht auf Titel und Ortsangaben ist freilich schade, denn alles Licht dieser Firma könnte nicht beleuchten, was kleine Schilder sagen müssten. So hängt die Serie zwar im ersten Geschoss, und trotzdem im „luftleeren Raum“. Zweigeteilt gar: Linkerhand alle Arbeiten in Schwarz-Weiß, die idyllisch wirkende Feldarbeit-Szene am Waldrand, die alte Grenze von Berlin und Schönefeld als ferne „Stadt-Land“-Totale, den Beton-Torso eines Mannes auf einem Zaunpfahl, indes sich ihm eine kalte Betonhand aus dem Gebüsch gruselig auf die Schulter legt. Dies alles spiegelt Sicht und Gustus des Fotografen wieder, den Augenblick als „Nu-Entscheidung“ festzuhalten. Ihn dann digital zu verbessern ist seine Sache nicht.

Mit den Farbbildern rechts sucht er vielleicht eine Annäherung an die Moderne, obwohl es Schaufensterspiegelungen und ähnliche Lichteffekte auch schon vor den Fluxus-Leuten gab. Interpretationssache. Folgt man dafür den Blicken der abgelichteten Menschen, entdeckt man den Sinn: Eine junge Eisverkäuferin blickt an der Alten vorbei, die einen Klappstuhl als Geh-Hilfe mit sich schleppt. Schaufensterpuppen schauen mit leerem Blick in die Welt, Leßnaus Fotoaugen von draußen auf sie. Und die schöne Bettlerin in Amsterdam? Alles hat hier auch mit dem Proporz von Innen und Außen zu tun: Russische Soldaten gruben ihre Sehnsucht nach den heimatlichen Städten auf die äußeren Schieferplatten der Ruhlsdorfer Zeughauswand. Einkaufswagen findet man eigentlich unter dem Dach eines Supermarktes, hier aber, tangbehangen und verrottet, am Strand von Dänemark. Die Szene gleicht dem „Verkommenen Ufer“ bei Heiner Müller.

Zeit wird man mitbringen müssen zur Ansicht dieser liebevoll „geschossenen“ und ausgewählten Fotos, deren Koordinaten von der östlichsten Ostsee bis zur westlichen Nordsee reichen. Einige sind in ihrer ambivalenten Rätselhaftigkeit besonders zur Kontemplation geeignet, alle aber haben einen „Haken“: Sie verleiten den Betrachter, sich ihnen gegenüber wie ein eiliger Passant zu verhalten. Erst das Goethesche Verweilen verwandelt Ansicht in Einsicht, verrät womöglich die Fortsetzung der vom Nu gebannten Geschichte, samt ihrer Spiegelwelten. Dies ist wohl auch der Unterschied zwischen „Knipsen“ und künstlerischer Fotografie. Mit ihr befasst sich Dieter Leßnau, Jahrgang 1938, seit einem halben Jahrhundert – seine „Altstadtgalerie“ in Teltow, wo man sogar eckige Gespräche am runden Tisch führen kann, gibt es seit vier Jahren.

Gerold Paul

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