Potsdam-Mittelmark: Struktureller Schaden
Europäische Kunstakademie in der alten Lungenklinik – Eine Wiederbelebung auf Zeit
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Beelitz - „Structural Distress“ lautet das Thema der 4. Europäischen Ausstauschakademie mit 35 Kunststudenten in den Beelitzer Heilstätten. Übersetzt bedeutet es soviel wie struktureller oder lebensbedrohlicher Schaden: Das könnte auch als Kurzdefinition für den Zustand des größten brandenburgischen Flächendenkmals mitten im Beelitzer Forst stehen. Nur ansatzweise haben die Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Heilstätten nach dem Auszug des russischen Militärlazaretts 1994 eine neue Nutzung gefunden. Wie Leuchttürme ragen die moderne Neurologische Rehaklinik, das mit EU-Mitteln sanierte Heizkraftwerk oder das Hotel „Alter Gustav“ aus der morbiden Gebäudemasse heraus.
„Leider keine neue Nachrichten“, sagt Gerd Ohligschläger von der Beelitzer Stadtverwaltung auf die Frage nach weiteren Investoren für das Areal. Zumindest hat er vom Hauptgläubiger, der Landesbank Berlin, nichts anderes gehört. Viel zu wenig hat sich getan, nach der Insolvenz der Roland-Ernst-Tochter Beelitz-Heilstätten GmbH & Co KG im Jahr 2001. Einmal im Jahr jedoch werden die zugewachsenen Zeitzeugen der Bau- und Medizingeschichte aus dem Dickicht der Vergessenheit gerissen. Damit hat die Kunstakademie für die Stadt schon eine wichtige Funktion erfüllt. Zum anderen liegen provokante Themen für die Studenten aus mehren europäischen Ländern, China, Japan, Israel und den USA hier im offenen Raum.
„Wie gehen wir mit Geschichte um, und was fühlen wir beim Anblick von Gebäuden, die für Niemanden mehr ein Heim sind?“ formuliert Kunstdozent Harry Heyink aus Amsterdam Gedankenansätze für rund 20 Projekte, an denen die Studenten seit dreieinhalb Wochen gearbeitet haben. Die Installationen, Skulpturen, Malereien, Videos und Texte werden am kommenden Wochenende zum Tag des offenen Denkmals zu sehen und zu hören sein: Dort, wo sie entstanden sind, in den Räumen der alten Lungenklinik für Männer, seit Jahren verwaist, aber immer noch voller Spuren einstiger Nutzung. Werkstattlärm zerreißt die Gedanken an leise über den Flur huschende Krankenschwestern. Aus alten Blechteilen schneidet und schweißt Jan Piccart einen großen Vogel. Heute soll er von der Feuerwehr direkt vor der Klinik sechs Meter hoch auf einen Baum gesetzt werden. „Er ist ein Wächter aber auch ein Parasit“, sagt der junge belgische Künstler. Viel Raum für Phantasie wie auch beim Projekt von Hendrik Vennemeyer aus Deutschland. Er zeigt unter anderem, wie ein Baum in einen alten Krankensaal hineinragt, wie sich die Natur ungenutzte Bausubstanz schleichend, aber unaufhaltsam zurück holt.
Limor Yitzhak aus Jerusalem erinnert die abblätternde Deckenfarbe an eine Landschaft. Dazwischen hat sie kopfüber einen Schienenstrang gemalt, den sie mit einer Videokamera erlebbar macht. Besonders beeindruckt ist die junge israelische Studentin von den Gegensätzen des Ortes ebenso wie von den vielen unterschiedlichen Charakteren, die durch die Europäische Austausch-Akademie hier unter ein Dach gebracht werden. Eine Atmosphäre, die auch den zehn Beelitzer Gymnasiasten gefallen hat, die erstmals für vier Tage an dem Kunstprojekt teilnehmen durften. Auf einer DVD werden nun die Ergebnisse dokumentiert. Denn der Wächter-Vogel bleibt vielleicht im Baum, doch viele Projekte sind nicht für die Ewigkeit. Und auch für die alte Lungenklinik war es nur eine Wiederbelebung auf Zeit.
Ausstellungseröffnung am 9. September um 15 Uhr, am 10. September geöffnet von 10 bis 18 Uhr
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