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Potsdam-Mittelmark: Unsinnig schnelle „Zicken“

Die Werderaner Postgeschichte im Spiegel von Briefmarken, Stempeln und Dokumenten

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Werder - Am Mittwochabend erlebte Werders legendärer Postbote Poppe im Heimatverein seine Wiederauferstehung. In seinem Vortrag „Werder im Spiegel von Postdokumenten“ erinnerte Wolfgang Heitsch daran, wie der ebenso trinkfreudige wie erfinderische Mann in den 1880er Jahren die Bahnpost für den Schnellzug nach Magdeburg, der in der Blütenstadt nicht hielt, auf den Weg brachte. Er stellte am Bahnhof einen Pfahl mit einer Plattform auf, auf die er ein Felleisen mit den Sendungen legte. Der Postschaffner angelte diesen Rucksack mit Hilfe einer hakenbesetzten Stange in den vorbeifahrenden Zug – eine artistische Leistung, die manchmal allerdings fehlschlug.

Heitsch, der sich seit seinem 11. Lebensjahr mit der Werderschen Postgeschichte beschäftigt und dazu Briefmarken und Dokumente sammelt, hielt eine ganze Reihe solcher Anekdoten bereit. Er verdeutlichte aber ebenso, wie sich in diesem Spezialbereich die allgemeine Geschichte spiegelt. Da gönnte sich am 22.2.22, 2 Uhr, ein Postkunde einen Gag und ließ einen Viererblock mehrfach mit diesem Datum stempeln. Immerhin 30 Reichsmark Porto entrichtete er dafür - eine Summe, die bereits die nahende Inflation ankündigte. Am 30. November 1923 kostete dann eine einfache Postkarte 10 Milliarden Reichsmark Porto, einen Tag später nach Einführung der Rentenmark nur noch 10 Pfennige.

Als bewegendes Zeitzeugnis konnte Heitsch, der sich nach der deutschen Wiedervereinigung eine neue Existenz als Patentanwalt aufgebaut hat, mit Zensurstempeln versehene Briefe von Arno Franz zeigen, die der Antifaschist aus dem NS-Konzentrationslager Sachsenhausen an seine Familie schrieb. Nach Arno Franz, der 1945 den Todesmarsch der Häftlinge Richtung Ostsee nicht überlebte, ist heute der Werderaner Sportplatz benannt.

Den Gang der Postgeschichte illustrierte der Sammler an einer Fülle von Dokumenten, so an einem Ersttagsbrief vom 15.11.1850 mit einer der neu eingeführten preußischen Postbriefmarken (Nr. 2) und der für das Werderaner Postamt stehenden Zahl 1608 im Stempel. Das Original war im September dieses Jahres für 30 000 Euro versteigert worden, da konnte Heitsch nicht mitbieten. Gar auf das Jahr 1598 geht ein allerdings nicht in Werder, sondern in Satzkorn ausgetragener Botenbrief mit dem Vermerk „Cito Cito“ (schnell, schnell", also ein Eilbrief) zurück. Das erste Poststück, das sich Werder zuordnen lässt, stammt aus dem Jahr 1835.

Neben Briefen und Postkarten hat Wolfgang Heitsch auch solche Raritäten gesammelt wie eine Abbildung des ersten, schon 1874 installierten Briefmarkenautomaten, einen 1858 ausgestellten „Behändigungsschein“ (Einschreibzettel), einen zwischen Bürgermeister Dümichen und dem Kemnitzer Gutsbesitzer v. Brietzke kursierenden „Wendebrief“, der gewendet und für die Antwort benutzt wurde, oder auch geschönte Ansichtskarten, auf denen die Fabrikschornsteine Werders einfach wegretuschiert worden sind. Und wie schnell war die Reichspost um 1900? Ein 14 Uhr in Potsdam aufgegebener Brief wurde 16 Uhr in Werder zugestellt! Die am 12. Dezember 1901 im ägyptischen Kairo für Werders Cantor Borchert eingelieferte Sendung erreichte den Adressaten laut Eingangsstempel sechs Tage später. Mit der Motorisierung, unter anderem mit als „Zicken“ bezeichneten Dreiräder, übersteigerten die Boten wohl ihr Tempo, denn 1925 musste sich der Magistrat mit einer Beschwerde gegen das „unsinnig schnelle Fahrens der Postautos“ befassen.

Wann bekam Werder das erste Postamt? Darüber konnte sich Wolfgang Heitsch mit seinem sachkundigen Publikum nicht einigen. 1843 hatte der ehemalige Bürgermeister Reitz am Markt 2 eine Postagentur eingerichtet, später zog sie zum Alten Markt 6 um (dem heutigen Hotel zur Insel). 1896 entstand der Neubau an der Ecke Eisenbahnstraße. Dies alles bleibt unumstritten, doch Heitsch geht von einer Poststelle schon im 18. Jahrhundert aus. Damals blühte die Stadt auf und hatte 1720 bereits 1000 Einwohner. 1738 kamen als Bewohner 400 Invaliden aus dem Potsdamer Königs-Regiment (Lange Kerls) hinzu. Heitsch meint,dass diese Größenordnung eine Poststelle erforderlich machte. Darüber kann weiter diskutiert werden, wenn der Sammler 2008 seinen zweiten Vortrag zur Werderaner Postgeschichte hält. Dann geht er auf die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart ein.

Erhart Hohenstein

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