
© Peter Könnicke
Von Peter Könnicke: Unter Beobachtung
90 000 Gänse – wer zählt denn so viel? Für Ornithologe Lothar Kalbe ist es eine Leidenschaft
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Potsdam-Mittelmark - „Da, hören Sie das.“ Begeistert unterbricht Lothar Kalbe die Unterhaltung, reckt den Zeigefinger in die Luft und animiert seine Gesprächspartner zum Lauschangriff. „Dieses lange Ziiiieh.“ Und was der Ahnungslose inmitten der Nuthe-Nieplitz-Niederung als gemeines Vogelgezwitscher wahrnimmt, deutet Kalbe fachkundig als den Ruf der Beutelmeise.
Lothar Kalbe ist Ornithologe aus Leidenschaft. Schon als Kind interessierte er sich für die heimische Vogelwelt. Erst war es sein Vater, der ihn für die Vogelkunde begeisterte, dann ein Schulfreund, „der wesentlich mehr wusste als ich“. Heute gibt es zumindest in den Breitengraden der Nuthe-Nieplitz-Niederung niemanden, der mit der Vogelwelt besser vertraut ist als Kalbe. „Er sieht und hört Dinge, die sonst kein anderer wahrnimmt“, meint Karl Decrubbe, Vorsitzender des Landschafts-Fördervereins Nuthe-Nieplitz-Niederung. Dort wissen sie in diesen Tagen Lothar Kalbe gar nicht hoch genug zu loben: seine Strenge und Akribie, mit der er seit 15 Jahren die Arbeitsgruppe der Ornithologen des Vereins leitet, sein Fachwissen und seine Verdienste zum Schutz der Vogelwelt. Heute feiert Lothar Kalbe seinen 75. Geburtstag – gerührt nahm er zur Kenntnis, dass der Vogelbeobachtungsturm in Stangenhagen fortan ein goldenes Schild mit seinem Namen trägt.
Die Landschaft mit den Flachseen um Stangenhagen ist ein Paradies für Vogelfreunde. Dass 5500 Hektar seit 1995 unter Naturschutz stehen, ist ein Verdienst des Fördervereins. Kalbe kennt die Gegend seit 45 Jahren. Als promovierter Biologe war er lange Zeit für die biologische und chemische Untersuchung der Gewässer im Potsdamer Umland zuständig, später arbeitet er im Landesumweltamt als Abteilungschef für Ökologie- und Umweltanalytik. Die Flächen der Nuthe-Nieplitz-Niederung um Stangenhagen wurden in der DDR als Weideland genutzt, Schöpfwerke pumpten das Wasser der Niedermoore ab. Nach der Wende wurden die Pumpen stillgelegt und die Landschaft veränderte ihr Gesicht. Die Wiesen liefen voll und es bildete sich eine beeindruckende Seelandschaft. Die nahrungsreichen Flachseen wurden zur „Wohnküche“ für zahlreiche Vogelarten. Bis zu 90 000 nordische Gänse rasten hier auf ihrer Winterreise, Kraniche nutzen die Seen in schneearmen Wintern als Dauerbleibe, Seeadler und Schwarzmilane ziehen ihre Kreise. Dass nach der ersten Sichtung Anfang der 80er Jahre heute sechs Fischadler-Paare in der Niederung zuhause sind, „ist eine Erfolgsgeschichte“, frohlockt Kalbe.
Bestände zählen, Veränderungen dokumentieren, Entwicklungen beobachten – ohne die Arbeit der Hobby-Ornithologen wären notwendige Maßnahmen und Eingriffe in dem Landschaftsschutzgebiet nicht möglich. Die saisonalen Zählungen der Wasservögel im Winter, die achtmal zwischen September und April im Rahmen eines europaweiten Monitorings stattfinden, liefern fundierte Aussagen über Bestandstrends, Schutzbedürftigkeit bestimmter Arten und Zugwege. Auch ökologische Veränderungen werden von den Ornithologen registriert, wobei es durch Kalbes berufliche Vita eine gute Zusammenarbeit mit dem Landesumwelt und dem Landeslabor Brandenburg gibt. „Wir mischen uns bei Projekten zur Verbesserung des Wasserhaushalts, bei der Renaturierung und beim Moorschutz ein“, so Kalbe. „Und wir beraten Landwirte, um Schäden an den Saaten durch Gänse, Schwäne und Kraniche zu verhindern.“
Mindestens zweimal in der Woche „bin ich irgendwo draußen“, sagt Lothar Kalbe. Er könnte es genau beziffern, denn über jeden seiner Ausflüge in die Vogelwelt gibt es eine Tagebuch-Notiz. Und wer sich von ihm durch die Nuthe-Nieplitz-Niederung führen lässt, avanciert garantiert zum seltenen Beobachter von Singschwänen, Eisvöglen oder Seeadlern. Denn Lothar Kalbe hört und sieht – fast – alles.
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