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DasWAR“S: Unter vier Augen

DasWAR“S Wie Peter Könnicke in dieser Woche begrüßt wurde Die erste Zeitung, die ich selbst abonnierte, war die Junge Welt. Ich war vielleicht 14 oder 15 und stolz, ein selbständiger Zeitungsleser zu sein.

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DasWAR“S Wie Peter Könnicke in dieser Woche begrüßt wurde Die erste Zeitung, die ich selbst abonnierte, war die Junge Welt. Ich war vielleicht 14 oder 15 und stolz, ein selbständiger Zeitungsleser zu sein. Erinnern kann ich mich nur noch an die Sexualaufklärungs-Rubrik „Unter vier Augen“. Was soll ich sagen: Ich war jung und brauchte die Tipps. Allerdings habe ich keine Sekunde an „Unter vier Augen“ gedacht, als ich meine erste Freundin hatte. Mir fiel in dieser Woche mein erstes Abonnement wieder ein, als ich beim Start meines Computers mit ein paar freundlichen Zeilen im ersten Fenster unseres Betriebssytems begrüßt wurde. In der Redaktion müssen wir uns an unserem Rechner mit einem Codewort anmelden, dann nuddelt sich System eine zeitlang hoch bis ein Fenster erscheint, in dem uns der Systemadministrator begrüßt. Manchmal steht da nur „Guten Morgen“ oder „Einen schönen Tag“ wünscht Herr Soundso. Seit ein paar Tagen halten es die Kollegen, die irgendwie nur im virtuellen Bereich agieren und hier in der Redaktion noch niemand gesehen hat, recht philosophisch. Heute wurden wir zum Beispiel mit Johann Gottlieb Fichte begrüßt. Am Wochenanfang gab es das zu lesen: „Man liest eben Zeitungen, wie man liebt: mit verbundenen Augen. Man versucht den Dingen nicht auf den Grund zu gehen. Man hört die süßen Reden des Chefredakteurs mit an, wie man den Worten seiner Geliebten lauscht. Marcel Proust.“ Ich hörte unweigerlich meine alte Deutschlehrerin Frau Köppel fragen: „Was will uns der Autor damit sagen?“ Ja genau, fragte ich mich, was bildet sich dieser Proust eigentlich ein? Behauptet der etwa, dass niemand richtig Zeitung liest und keiner meine Artikel wirklich ernst nimmt? Oder will er sagen, dass ein Zeitungsleser nicht hinterfragt, was geschrieben steht und für gegebene Münze nimmt? Dann wäre mir einmal ein sehr peinliches Telefonat erspart geblieben, als mich ein erboster Leser für bescheuert erklärte, weil ich in einer Terminankündigung zu einem Mallorca-Vortrag die Insel versehentlich den Kanaren zuschlug. Und die Reden meines Chefredakteurs klingen nun wirklich nicht wie die Worte meiner Liebsten. Gott sei dank. Nein, lieber Herr Proust, Sie mögen in Frankreich ein guter Romanschriftsteller gewesen sein, aber vom modernen Zeitungsleser hatten Sie keine Ahnung. Der weiß, dass Mallorca zu den Balearen gehört. Und dass man mit verbundenen Augen liebt, habe ich in der Jungen Welt nie gelesen.

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