Potsdam-Mittelmark: Unterricht beim Schneider
Bibelkunde, strenge Lehrer und Schülerstreiche: In Bergholz wird das Jubiläum der alten Schule begangen
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Nuthetal - Das Nachsitzen hat seine Wirkung auch nach 80 Jahren nicht verfehlt. „Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn“, sagt Hildegard Feist die Anfangsstrophen eines alten Kirchenliedes auf und verzieht dabei ihre Mundwinkel. „Schon als Kind fand ich das so was von eklig“, sagt die heute 87-jährige Frau mit den kinnlangen weißen Haaren und den dunklen Augen. Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1943, war sie eingeschult worden. Ihre alte Bergholzer Dorfschule feiert in diesem Jahr ihr 120. Jubiläum.
Zucht und Ordnung hätten damals geherrscht. Und wer seine Hausaufgaben nicht machte, der musste nachsitzen – wie Hildegard Feist. Sie weigerte sich einst, das Kirchenlied aufzusagen. „Und heute kann ich die Strophen noch immer auswendig“, sagt die ehemalige Schülerin und lacht auf. Ja, die Lehrer waren früher streng, „aber auch sehr gut“. Das habe sie erst realisiert, als sie auf die Oberschule nach Potsdam kam.
Ende des 19. Jahrhunderts ging der Schulbetrieb in dem alten Backsteingebäude in der heutigen Schlüterstraße neben der Dorfkirche los. Der erste Lehrer war damals ein Schneider. „Eine Lehrerausbildung gab es damals noch nicht und der Schneider konnte rechnen und schreiben“, sagt Kurt Baller. Der Historiker hat zusammen mit weiteren vier Autoren die wechselvolle Geschichte des denkmalgeschützten Hauses recherchiert. Unzähliges Material kam zusammen.
„120 Nuthetaler gaben uns Hinweise und Fotos, mit 35 ehemaligen Schülern führten wir Interviews – jedes Jahrzehnt haben wir durchleuchtet“, so Baller. Entstanden ist ein fast 200 Seiten starker Jubiläumsband.
Die alte Dorfschule war früher der Dreh- und Angelpunkt in Bergholz. „Meine ganze Familie ging dort schon zur Schule“, sagt Hildegard Feist. Ihre Großmutter gehörte 1895 zu den ersten Absolventen. „Auch wenn es Familientradition war, anfangs wollte ich nicht in die Schule. Ich wollte lieber noch Kind sein und spielen.“ Als Hildegard Feist bemerkte, dass auch in der Schule alle ihre Freunde in dem großen Klassenzimmer um sie herum waren, sei sie gerne in das Backsteinhaus gegangen. „Von da an war ich auch eine gute Schülerin.“
Lehrer mit hohem Fachwissen und pädagogischen Qualitäten hätten die Schüler damals unterrichtet. „Die Schule profitierte von der Nähe zu Berlin und Potsdam“, sagt Historiker Baller. Sie habe sich von Schulen, die weiter draußen auf dem Land lagen, abgehoben. In zwei großen Klassenzimmern wurden bis zum Ende der 60er-Jahre bis zu 150 Kinder unterrichtet. Wie damals üblich waren die Klassenstufen gemischt, die Jüngsten saßen vorne, die Älteren hinten.
Besonders beliebt waren Lehrerstreiche. „Die Schüler waren es leid, den kleinen Katechismus auswendig zu lernen, da zerlegten sie das Fahrrad des Pfarrers in Einzelteile und hangen alles in der großen Kastanie vor der Schule auf“, so Baller. Auch Juckpulver sei über Jahrzehnte sehr beliebt gewesen.
Die Geschichte der Schule war aber nicht immer nur lustig: Das Autorenteam um den Historiker befasste sich auch mit den dunkleren Kapiteln der Geschichte. „Wir haben Erinnerungen eines halb jüdisch Jungen aufgeschrieben, der schwer gelitten hatte in der Dorfschule.“ Auch die Angst vieler Bergholzer Eltern vor dem Einrücken der Roten Armee wird beschrieben: „Vor lauter Goebbels-Propaganda haben sie ihre Kinder umgebracht, damit sie nicht in die Hände der Russen fallen“, sagt Baller. Die Namen der auf diese Weise getöteten Kinder werden in dem Jubiläumsband aufgelistet. „Wir haben bei unseren Recherchen auch herausbekommen, wie viele Männer aus Bergholz im Zweiten Weltkrieg gefallen sind“, sagt der Historiker. Die Zahl sei bisher unbekannt gewesen.
Vor nicht allzu langer Zeit war die alte Dorfschule heruntergekommen und lange verwaist. Vor sieben Jahren machten sich Senioren an die Sanierung des Hauses. „Heute ist daraus ein Schmuckstück geworden“, sagt Manuela Hartert vom Nuthetaler Mehrgenerationenhaus. Sie ist mit ihrem Verein in die ehemaligen Klassenzimmer gezogen, seit über einem Jahr bereitet sie zusammen mit den Anwohnern der Gemeinde das Schuljubiläum vor. „Mich hat es gefreut, wie sehr sich die älteren Menschen bei den Vorbereitungen engagieren.“ Ihre Jugend wieder aufleben zu lassen, hätte sie begeistert.
Einen Monat lang wird jetzt die alte Dorfschule gefeiert. „Der Höhepunkt wird das Familiendorfschulfest am 5. Juli sein“, kündigt Hartert an: mit historischer Rechenstunde in einem Klassenzimmer um 1900, unzähligen alten Fotos und bis zu 400 ehemaligen Schülern. Unter ihnen wird auch Hildegard Feist sein, die den Schulkindern von heute erzählen wird, wie schrecklich ihr einzige Mal Nachsitzen gewesen ist.
Am heutigen Mittwoch wird der Jubiläumsband bei einer Lesung in einem historischen Klassenzimmer vorgestellt. Los geht es im Mehrgenerationenhaus in der Schlüterstraße 46 um 19 Uhr. Der Eintritt kostet 3 Euro. Weitere Veranstaltungen unter mehrgenerationenhaus-nuthetal.de
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