Potsdam-Mittelmark: Verräterisches Zeugnis
Schicksalhafte Begegnung: 30 Jahre nach seiner Schulzeit traf Hanns Kirchner seinen alten Rektor wieder
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Kleinmachnow - Den dramaturgischen Höhepunkt dieser Geschichte festzulegen, ist nicht leicht. Frühjahr 1944? Als der Kleinmachnower Schuldirektor Paul Walewicz das Zeugnisheft eines seiner Schüler mit Tinte übergoss und einzog, um so den Hinweis auf die jüdische Herkunft des Jungen zu verbergen. Oder 30 Jahre später, als der längst pensionierte Rektor seinen ehemaligen Schüler zufällig auf einem belebten Platz in Steglitz ansprach, ob er Hanns Kirchner sei? Ganz gleich, welcher dieser schicksalhaften Momente das Empfinden mehr berührt: Die Episode um das unleserlich gemachte Zeugnisheft gehört zu einem wertvollen Kapitel in der Geschichte der Eigenherd-Schule, die in der kommenden Woche ihr 75-jähriges Bestehen feiert.
Als Aline Kirchner 1941 ihren Sohn Hanns an der Eigenherd-Schule anmelden wollte, erkannte der damalige Rektor Walewicz auf der Geburtsurkunde unschwer, dass der Junge nicht Kirchner, sondern Natanson heißt. Als unehelich geborenes Kind trug der Junge nach damaliger Vorschrift den Mädchenname seiner Mutter – einer Jüdin. Sie war nach Machtübernahme der Nationalsozialisten aus der Kulturkammer ausgeschlossen worden, hatte ihren Posten als Redakteurin beim Ullstein-Verlag und ihre Berliner Mietwohnung verloren. In der Hoffnung, eigenes Eigentum behalten zu können, kaufte sie – wie damals viele Berliner – in Kleinmachnow ein Haus. Sie beendete ihr angefangenes Medizinstudium, fand eine Arbeit bei Schering und schaffte es, in Kleinmachnow ihre jüdische Herkunft zu verbergen, „wozu viele Zufälle beigetragen haben“, wie Hanns Kirchner später herausfand.
Auch das Handeln des Schulleiters Walewicz gehörte dazu. Der traf zur Einschulung des halbjüdischen Jungen die ungewöhnliche Entscheidung, in den amtlichen Schuldokumenten, die der Rektor unter Verschluss hatte, den Junge unter dem Namen Hanns Natanson zu führen, im Klassenbuch indes als Hanns Kirchner. Er selbst, so Kirchner heute, habe damals nichts von der doppelten Namensführung gewusst. „Ich wusste als Kind nicht, dass wir Juden sind.“ Zum Glück: „Ich war ein verquatschter kleiner Junge.“
Das Zeugnisheft war das einzige Dokument, auf dem der Name Natanson offensichtlich wurde. Betroffene Lehrer – es soll im damaligen Kollegium der Eigenherd-Schule keine Nazis gegeben haben – waren eingeweiht und im Umlauf war das Heft nur zum Eintrag der Zensuren und nach der Zeugnisausgabe. Von der Mutter unterschrieben wurde es von Walewicz wieder unter Verschluss gehalten.
Diese Praxis wurde zur Gewohnheit. Und die Routine ist Walewicz fast zum Verhängnis geworden. Mit Fortgang des Krieges wurden nur noch Lehrer mit NSDAP-Parteibuch eingestellt, so dass das zum Eintrag der Zensuren kursierende Zeugnisheft durchaus in falsche Hände hätte gelangen können. In Panik geraten hat Walewicz das Dokument mit Tinte übergossen, somit unbrauchbar gemacht und begründet aus dem Verkehr gezogen. Die neuen Zeugnisblätter trugen den Namen Hanns Kirchner.
30 Jahre später, nach der zufälligen Begegnung in Steglitz, hat Walewicz das mit Tinte übergossene Zeugnisheft seinem ehemaligen Schüler übergeben. Der hatte nach dem Krieg seinen Namen offiziell in Kirchner ändern lassen und nach dem Tod seiner Mutter, die 1955 an den Folgen ihrer Angst während der NS-Zeit und enttäuschten Hoffnungen danach gestorben war, mit der Vergangenheit abgeschlossen. Erst später begann er, die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten, Unterlagen und Dokumente zu suchen und zu archivieren.
Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, das Zeugnis aufzubewahren, habe Walewicz bei der Übergabe des Heftes gesagt. „Mir ist völlig unklar, wie er mich nach all den Jahren wiedererkennen konnte“, meint Kirchner. „Ich schließe daraus, dass es ihm wichtig war.“ Er habe den Schulleiter nach der „merkwürdig gebrochenen Konsequenz“ seine Handelns gefragt: Einerseits habe Walewicz die jüdische Identität des Jungen zu verbergen versucht. Andererseits hätte er auf den richtigen Eintrag in den offiziellen Unterlagen verweisen können, wäre der falsche Name aufgefallen. Als deutschen Beamten sei es ihm unmöglich gewesen, amtliche Unterlagen zu verfälschen, erklärte Walewicz daraufhin. Für Kirchner, der später selbst als Berliner Staatssekretär im Dienst des Staates stand, erklärt die Antwort vieles auf die immer wieder gestellte Frage, wie ein dem Recht verpflichteter Staatsapparat einem verbrecherischen System dienen konnte. Fußnote dieser Geschichte: Kirchners Großvater war ein hochrangiger Jurist, der an den rechtsideologischen Thesen für das Dritte Reich mitgewirkt hatte.
„Zunächst“, so Kirchner, „habe ich Walewicz für einen Feigling gehalten. Später habe ich ihm gegenüber großen Respekt empfunden, dass er mir das Zeugnis als Zeichen seines Versagens nach so langer Zeit übergab.“ Er maße sich nicht an zu behaupten, so der 73-Jährige Kirchner heute, ob er in der damaligen Situation konsequenter und mutiger gehandelt hätte.
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