Von Henry Klix: Vor fliegenden Flaschen geschützt Seine Festnahme löste die Ausschreitungen des Baumblütenfest 2009 aus. Gestern saß Michel A.
auf der Anklagebank
Stand:
Werder (Havel) / Potsdam - „Soll ich es ihnen vorführen?“, fragt Gordon L. Dann tritt er vor die Richterin und zeigt, wie ein Polizist mit seinem ganzen Gewicht auf dem gefesselten Michel A. gekniet habe. Andere Beamte hätten ihn getreten und geschlagen, mitfilmende Polizisten die Kamera weggedreht. „Aber ich habe alles auf Video“, sagt Gordon L. aufgebracht. Doch in dem Prozess gestern im Amtsgericht sitzen nicht prügelnde Polizeibeamte auf der Anklagebank, sondern ein 22-Jähriger, der sich beim Baumblütenfest 2009 in Werder seiner Festnahme widersetzte.
Michel A. ist angeklagt wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und versuchter Körperverletzung, mit einer Geldstrafe von 600 Euro kommt er milde davon. Dabei ist er kein unbeschriebenes Blatt, saß wegen Diebstahl und Sachbeschädigung zweimal kurz im Jugendarrest. Zum Blütenfest war eine zweijährige Bewährungszeit abgelaufen. Er sei nach Werder gekommen, um sich mit Freunden, die er selten sieht, zu betrinken, wie Michel A. auf die hartnäckigen Fragen der Richterin Waltraud Heep einräumt. „80 Prozent machen das so. Den Obstwein gibt’s ja nur einmal im Jahr.“
Dennoch beteuert er, an jenem Festsamstag „grundlos“ von Polizisten zu Boden gebracht worden zu sein. Er habe gesehen, wie sich ein Kumpel mit einem Festbesucher rangelte. „Ich wollte ihn wegziehen, damit die sich nicht prügeln.“ In dem Moment sei er von Polizisten „überrannt“ worden. „Da bin ich ausgerastet, habe gebrüllt und mich gewehrt.“ Wie klar er mit 1,6 Promille und 8 Nanogramm THC noch gewesen sei?, fragt Richterin Heep. Klar genug, um die Schläge der Polizisten mitzubekommen, antwortet Michel A. „Ich hatte richtig Angst.“
Drei Polizisten schilderten gestern, wie sie Michel A. aus einer Rangelei lösen wollten, der sich der Festnahme widersetzte, trat, spuckte und Beleidigungen ausstieß. Zwei Leute hätten nicht gereicht, ihn zu bändigen, so Jan L. Bei der Aktion war sein Polizeizug von Festbesuchern umringt. Die Gruppen, die man bei der Rangelei als gegnerische Lager ausgemacht hatte, verbrüderten sich gegen die Polizei, so Jan L. Wo die Hämatome bei Michel A. herkamen? „Das weiß ich nicht, ich habe keine Schläge beobachtet.“
Drei nicht eben geschliffen wirkende Bekannte des Angeklagten bestätigen derweil Teile seiner Version. Michel A. sei nur so aufgebracht gewesen, weil ihm bei der Festnahme die Sonnenbrille runterfiel und er sie nicht zurückbekam, sagt Gordon L. Er und Marcel S. bezeugen prügelnde Polizisten, die „vermummt“ gewesen seien. Eines können sie nicht bestätigen: Dass der Polizeieinsatz grundlos war. Selbst Bascha D. nicht, der mitbekommen haben will, dass Michel A. nur einen Streit schlichten wollte: „In dem Geschubse konnte die Polizei das nicht sehen.“
Die Verhandlung hat Atmosphäre: Einen Zeugen muss Michel A. in der Pause per Handy ranklingeln, weil er den Termin vergessen hat. Dreimal heißt es auf die Eingangsfrage der Richterin nach dem Beruf: „arbeitslos“. Bascha D. setzt sich nach seiner Aussage neben den Staatsanwalt, als im kleinen Zuschauerraum kein Platz mehr ist. Und Gordon L. platzt, von Richterin Heep auf Erinnerungslücken angesprochen, der Kragen: „Das ist zwei Jahre her. Da hätten sie eher verhandeln müssen.“ Dann wird noch ein 18-Jähriger in Handschellen hereingeführt, der den Vorfall gar nicht kennt und wieder abgeführt wird. Er soll nur an der anschließenden Randale beteiligt gewesen sein.
Die Szene um Michel A. eskalierte zu den heftigsten Ausschreitungen, die es seit 1990 bei einem Blütenfest gegeben hat. Etwa 150 Jugendliche griffen den Polizeizug an und bewarfen die Beamten mit Steinen, Flaschen, Bänken und Verkehrszeichen. „Die waren uns nicht friedlich gesonnen, weil wir jemanden abführen wollten“, so Polizeimeister Daniel R. gestern. „Als wir Michel A. zum Gefangentransport führten, mussten wir ihn schon vor den fliegenden Flaschen schützen.“ Vier Polizisten wurden verletzt, die Staatsanwaltschaft ermittelt noch gegen drei Festbesucher wegen Landfriedensbruch. Polizeibeamte blieben bei den Ermittlungen außen vor, die Polizeivideos wurden nicht sichergestellt. Warum, das wird in der Verhandlung nicht thematisiert.
„Je wilder der Angeklagte wurde, desto massiver wurden die Maßnahmen der Polizeibeamten“, erklärt Richterin Heep in der Urteilsverlesung. Die „Polizeitechniken“, die dabei angewandt wurden, kenne sie nicht. Rechtsanwalt Hans-Jürgen Kernbach spricht von einem „Fehlverhalten der Polizei bis hin zur Straftat, das nicht verfolgt wird, weil die Täter nicht eindeutig zu identifizieren sind.“ Er hat Fotos von den blauen Flecken dabei, die sich sein Mandant bei den Schlägen zugetragen habe. Immerhin: Nach der Verhandlung überlegt er, dass die Strafe ohne die prügelnden Polizisten wohl „deutlich höher“ ausgefallen wäre. Bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug wären drin gewesen.
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