Potsdam-Mittelmark: Wahre Freundschaft am Gemünde
Wie sich eine verlassene Gans einer Schwanenfamilie anschließt und auch unter Menschen Vertraute findet
Stand:
Schwielowsee - Die Geschichte beginnt tragisch: Ein Graugansgössel, vor sechs Jahren im Winter verletzt von seinen Eltern zurückgelassen. Es schließt Freundschaft mit einem Höckerschwan. Der hat vielleicht ein bisschen zu großes Vertrauen. Als die Gans durch die Eisenkonstruktion der Bahnbrücke am Caputher Gemünde fliegt, folgt ihr der Schwan. Doch dessen Flügelspanne ist mit fast zwei Metern viel weiter – er bleibt in der Konstruktion hängen, stürzt ab, stirbt.
Die Graugans ist noch heute am Schwielowsee zu Hause. Und Helga Kisant, die am Gemünde am Informationsschalter der Weissen Flotte arbeitet, hat das Treiben all die Jahre beobachtet – oder es sich von Caputhern erzählen lassen. Denn die Graugans ist Ortsgespräch. Anita wurde sie inzwischen getauft. Helga Kisant ist eine gute Vertraute der Schwäne am Gemünde, füttert sie aus der Hand und streicht ihnen über das Gefieder. Jetzt auch Anita.
Ungewöhnlich, sagt Günter Kehl, Leiter der Naturschutzbehörde Belzig. Aber auch er hat inzwischen am Gemünde vorbeigeschaut, um sich über die Graugans zu vergewissern: „An sich sind das scheue Wesen, aber bei den Schwänen sieht sie wohl, dass sie keine Angst vor den Menschen hier haben muss.“ Die Graugans würde sich wie eine Hausgans verhalten.
Nach dem Tod des Freundes findet Anita Anschluss an eine Schwanenfamilie. Sie mischt sich in die Kinderschar, die Jungen werden flügge, die Gans bleibt. Einige Jahre hat das Paar keinen Nachwuchs bekommen – wohl in dem Glauben, dass ja noch ein Kind zu versorgen ist. Inzwischen wächst aber doch die nächste Generation heran, die Graugans gehört immer noch zur Familie. Sie hat sich Respekt erworben, indem sie Blesshühner und Enten von Leckerbissen vertreibt, mit denen die Leute die Vögel füttern – damit sie die Schwanenküken bekommen. Oder die Mutter, die gerade am Schnabel verletzt ist.
Ihre Scheu hat die Graugans vom Gemünde auch gegenüber Helga Salehi abgelegt. Die Pensionärin ist ehrenamtliche Tierschutzlehrerin beim Verein „Tier & Mensch“. Sie hatte Anita vor vier Jahren erstmals gesehen, wie sie mit ihren vermeintlichen Schwaneneltern an ihrem Wassergrundstück vorbeipaddelte. Gelegentlich gibt es Kontakte. Im Winter 2006 dann entdeckte ihre Tochter Roswitha Bothe die Gans mit verletztem Bein und halb verhungert bei Eis und Schnee am Ufer des Schwielowsees, informierte die Feuerwehr. Es war die Zeit der Vogelgrippe, die Wehrleute rückten mit Masken und Schutzanzügen an. Und Anita suchte gerade noch rechtzeitig das Weite.
Helga Salehi glaubte schon, Anita sei gestorben. Doch als sie vor ein paar Wochen morgens in der Havel badete, tauchte die Gans wieder auf und gondelte mopsfidel um sie herum. Auch die Schwanenfamilie tauchte plötzlich auf – mit den acht Küken. Eine ungewöhnliche Nähe zwischen Mensch, Schwänen und Graugans entstand im Wasser, die fotografisch festgehalten werden konnte. Der Schwanenvater machte dann allerdings irgendwann plusternd deutlich, dass der Spaß ein Ende hat – und Helga Salehi flüchtete an Land. „Die mit den Schwänen badet“, dichtete ein Witzbold, als er das Foto sah.
Graugänse sind an sich verbreitet in Brandenburg, in der Region vor allem in der Nuthe-Nieplitz-Niederung. Am Schwielowsee ist Anita allerdings die einzige ihrer Gattung. „Graugänse brauchen Wiesenland und einen weiten Blick, Wasserstandorte mit Gehölzen am Ufer meiden sie eher“, sagt Naturschützer Günter Kehl. Auch Anitas Familienanschluss sei ungewöhnlich – wenn auch nicht einmalig. Dass Graugänse mit Schwänen leben, sei ganz selten schon mal zu beobachten: Kehl kennt aus den vergangenen Jahren zwei Fälle – am Entenfängerteich in Geltow und am Rietzer See. „Das sind dann alleingelassene Tiere, die in ihren ersten Lebenswochen fehlgeprägt werden, indem sie Kontakt mit anderen Arten bekommen.“ Wenn die Art futtermäßig passt, funktioniert die Kontaktaufnahme. Ob das immer so dauerhaft ist wie am Gemünde, bezweifelt Kehl allerdings. Für Caputh gilt die bekannte Weisheit: Wahre Freundschaft ist eine langsam wachsende Pflanze.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: