Potsdam-Mittelmark: Werders Rettungsärzte
Mit Erwin Velten und Johannes Bamberg haben zwei Mediziner Werder am Kriegsende 1945 vor der Zerstörung bewahrt. Dank Recherchen des Heimatvereins lassen sich die Ereignisse erstmals nachvollziehen
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Werder (Havel) - Die Straßen waren leergefegt, die Bewohner wie vereinbart in den Häusern. An allen Fenstern flatterten Laken und Tischtücher, ein weißes Flaggenmeer. Die Kirchtürme, die Mühle, das Rathaus, die schmucken Bürgerhäuser waren unversehrt, als die Rote Armee mit Panzern, motorisierten Einheiten und pferdebespannten Panjewagen in Werder einmarschierte. Etwas Frieden in einem irrsinnigen Krieg. Die Stadt hatte sich kampflos gestellt.
Wem man dafür danken kann, war bislang offen in der Stadtgeschichte. Alfred Schultze (79) und Kurt Pape (84), zwei Mitglieder des Heimatvereins, sind der Frage auf den Grund gegangen. Für nächstes Jahr bereiten sie eine Publikation zum Jahr 1945 in Werder vor. Darin werden sie beantworten, wer die kampflose Übergabe ausgehandelt hat. Es sind vor allem die Namen zweier Ärzte: Erwin Velten und Johannes Bamberg. Der eine gab den Impuls, der andere ergriff die Gelegenheit – auf die als Dritter auch Bürgermeister Mertes gehofft hatte.
Drei Jahre recherchierten Schultze und Pape in den Archiven, in Entnazifizierungs- und Enteignungsakten. Gestern präsentierten sie den PNN Unterlagen, mit denen sich erstmals rekonstruieren lässt, was in jenen Tagen passierte. Die Stadt war Ende April weitgehend von Rotarmisten umstellt. Am 25. April hatten sich ukrainische und weißrussische Fronten in Ketzin vereinigt, der Ring um Berlin war geschlossen und zog sich immer enger. Am 26. April standen die Truppen vor dem Fliegerhorst am Nordrand Werders, am 27. April war Glindow besetzt. Am selben Tag fiel Potsdam.
Nur Werder wurde von den Rotarmisten vorerst in Ruhe gelassen, und von der anderen Frontseite ließ der Volkssturm auf sich warten. Der einzig bekannte Einsatz: Werders Volkssturmleute sollen verhindert haben, dass eine Wehrmachtseinheit die Phöbener Autobahnbrücke sprengt – und dasselbe Schicksal erleidet wie die Baumgarten- und die Eisenbahnbrücke zur Stadt.
Die Unterlagen legen nahe, dass Bürgermeister Georg Mertes dem Gemeinderat schon am 26. April empfohlen hatte, die Stadt nicht zu verteidigen. Andernfalls würde er sein Amt zur Verfügung stellen, der Gemeinderat bat ihn zu bleiben. Mertes wurde am selben Abend vom NSDAP-Ortsgruppenchef Albrecht und Volkssturmkommandant Bertsch abgeführt, nach vier Tagen wieder freigelassen. Er setze sich nach Niedersachsen ab, wo bereits seine Familie lebte.
Der Bürgermeister hatte über die Kapitulation offenbar schon im Vorfeld bei mehreren Treffen mit einem Grüppchen Vertrauter beraten, darunter Johannes Bamberg. Der Werderaner Allgemeinmediziner war im Rang eines Stabsoffiziers als Standortarzt für die 21 Kriegsgefangenenlager der Region und drei Lazarette der Stadt auf der Bismarckhöhe, in der Schule und in der Millionenvilla zuständig. Sie nahmen Verletzte von der Ostfront auf, die noch bis in die letzten Kriegstage eingeflogen wurden. Bamberg muss dafür gesorgt haben, dass Werder weithin als Lazarettstadt bekannt war – ein Status, den Frankfurt (Oder) mit deutlich mehr Lazaretten innehatte, den es von Amts wegen aber nicht gab. Er stellte womöglich dennoch einen gewissen Schutz dar.
Auf Bambergs Drängen hin haben Volkssturmleute am 29. April auf dem Lazarettgelände Unter den Linden ihre Waffen fortgeworfen. Dort durften sich laut Genfer Konvention keine Kampfgruppen aufhalten, argumentierte er. Erwin Velten, der in Werder als Zahnarzt praktizierte und auf der anderen Havelseite in Wildpark West lebte, erfuhr auf Umwegen davon.
„Diese Mitteilung gab ich an einen russischen Oberstleutnant weiter, der mit ca. 20 Mann mein in Wildpark West liegendes Haus besetzt hatte und einen Artilleriebeobachtungsstand auf meiner Terrasse angelegt hatte“, wie es in einem KPD-Dokument heißt, in dem Velten im November 1945 die Ereignisse wiedergab. Die nach Werder gerichteten Geschütze hätten ihn veranlasst, dem Wunsch des russischen Stabes nachzukommen und eine Kapitulationsaufforderung nach Werder zu bringen. Anderenfalls würde in der Nacht zum 3. Mai der Beschuss beginnen. Veltens Frau und seine Tochter wurden als Geiseln genommen, er sollte in zwei Stunden aus Werder zurück sein. Die Zeit sollte nicht reichen.
Velten fuhr per Boot über die Havel, begab sich zum Hause Bambergs. Hausangestellte brachten ihn zum Lazarett in der Schule, wo er Bamberg traf. Er habe sich gleich hilfsbereit gezeigt, mit dem Auto sei man zum Kampfkommandanten gefahren, einem Major Meyer – ein bislang unbekannter Name aus jenen Tagen. Meyer habe von „schwachen russischen Kräften“ und der „idealen Verteidigungslage Werders“ gesprochen. Bamberg wurde ungehalten, fragte, wie die Tausenden deutschen Verwundeten abtransportiert werden sollen. „Dr. Bamberg hatte in dieser Debatte sehr laut gesprochen und einen sehr roten Kopf“, berichtete Velten.
Major Meyer brach das Gespräch ab. Velten bat er nach Befragung zu den Russen, im Vorzimmer zu warten. Ein Volkssturmführer und vier Offiziere seien zu Bamberg und Meyer gestoßen, um sich zu beraten. „Anschließend erhielt ich einen geschlossenen Umschlag, um denselben dem russischen Kommandanten zu überbringen.“ Bamberg brachte seinen Kollegen zur Anlegestelle. Dreieinhalb Stunden waren um, als Erwin Velten zurück war. Die Russen warteten ungeduldig, das versiegelte Schreiben führte zur kampflosen Übergabe der Stadt.
Bamberg erklärte später, es allein unterzeichnet zu haben. Tatsächlich hatte er zeitweise die Führung übernommen, handelte die Übergabe aus und fuhr am 3. Mai 1945 mit seinem weiß beflaggten Auto vorneweg, als sowjetische Kolonnen von der Autobahn in Kemnitz aus in Werder einfuhren. Die Kommandantur wurde in der Eisenbahnstraße eingerichtet, wo heute die Volksbank ist. Als die Stadt am Abend desselben Tages offiziell übergeben wurde, war Bamberg wieder im Lazarett.
Velten ging mit seiner Familie einige Jahre später nach Westdeutschland, Bamberg kämpfte erfolglos gegen seine Enteignung. Er ließ viele Zeugen schriftlich seine Darstellungen über das Kriegsende und seine nachgeordnete Rolle in der Naziära bestätigen. Kurt Pape vom Heimatverein glaubt, dass dabei geschummelt wurde. Er hat den Mediziner als Kind noch kennengelernt, beschreibt ihn als netten, aber ruppigen Typ. Welche Rolle er in den zahlreichen Kriegsgefangenenlagern der Stadt gespielt hat, ist umstritten.
Dass Bamberg Gefangene misshandelt haben und Obersturmführer der SS gewesen sein soll, führte 1950, im Jahr nach seinem Tod, dazu, dass der Gemeinderat die Enteignung der Erben bestätigte. Bamberg hatte den Vorwürfen bis zum Schluss widersprochen. Er beteuerte, in den Lagern für bessere Verpflegung und Hygiene gesorgt zu haben. Er erklärte, gezwungen worden zu sein, die örtliche SS-Einheit zu behandeln. In dieser Rolle sei er zum Untersturmführer bestimmt worden. Immerhin durfte er weiter praktizieren, behandelte auch Rotarmisten.
Laut Bamberg war die kampflose Übergabe „ausschließlich auf ihn“ zurückzuführen – eine Darstellung, die Kurt Pape und Alfred Schultze mit ihren Recherchen korrigierten. Belegt ist jetzt, dass Bamberg mit seinem Arztkollegen Velten und dem Bürgermeister Mertes für ein friedliches Kriegsende in Werder sorgte.
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