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KulTOUR: Wie viel Erinnern braucht der Mensch?

Autor Peter Kurzeck las im Huchelhaus aus seinem zwölfteiligen, unvollendeten Romanprojekt

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Michendorf - Manch einer erinnert sich selten und ungern, andere können davon nun gar nicht lassen. Der 1943 im böhmischen Tachau geborene Autor Peter Kurzeck ist ein Meister des Eingedenkens. Vielleicht sogar ein Phänomen, denn seit Mitte der neunziger Jahre arbeitet er an einem zwölfteiligen Romanprojekt, darin seine Kindes- und Jugenderinnerungen den Hauptpart spielen. Aufarbeitung von Geschichte als Biografie, könnte man sagen. Chronistenarbeit, aber nicht so, wie es üblich ist, hübsch nacheinander und kreuzbrav. Sein unvollendetes Opus Magnum erscheint ja auch, wie es will, eher durcheinander.

Kürzlich las er im proppenvollen Peter-Huchel-Gedenkhaus zu Wilhelmshorst aus „Vorabend“, dem fünften Band dieses Projekts, wieder so ein respekteinflößender Dickleiber! Dieser Autor hat tief wurzelnde Lebens- und Arbeits-Maximen: „Ich möchte meine Zeit aufschreiben“, sagt er, und dabei nur Worte verwenden, die er als Kind kannte. Und wie? „Alles, was Du weißt, weißt Du vom Zusehen.“ Genau das tut seine etwa acht Jahre alte Ich-Figur an einem langen Herbstnachmittag im hessischen Lollach.

Sie beobachtet das geschäftige Treiben auf einem Güterbahnhof, die Waage für die Pferdefuhrwerke, aufgewirbelten Kohlestaub, den Chef des Messinstruments und seinen Gehilfen, die Dohlen darüber, die Wolken, den Himmel ganz oben, Anfang der fünfziger Jahre.

Kurzeck las mit weicher, melodischer, aber auch ziemlich sonorer Stimme, was die Erinnerung ihm da so detailverliebt entgegenblies.

Die Entstehung dieses 1200 Seiten starken Manuskripts ist ungewöhnlich: Er „diktierte“ seine angeblichen Erinnerungen im vorigen Jahr auf öffentlichen Veranstaltungen, während bis zu vierzig Helfer diese Audio-Version für ihn aufschrieben. Ganz schön praktisch. Dabei kommt der sich in Details und Assoziationen verlierende Memorand schon mal vom Hundertsten ins Zehntausendste, er wechselt die Personalpronomen vom Ich bis zum Wir, ändert Perspektive und den Betrachter, versteckt seinen Text hinter mystisch heimelnden Konjunktiven, was für einen etwa Achtjährigen offenbar typisch ist.

Kurzeck behauptet ja ausdrücklich, nur aufzuschreiben, was er selbst wisse. Das aus halb Deutschland angereiste Publikum jedenfalls hörte seiner wenig reflektierten Prosa dennoch mit größtmöglicher Aufmerksamkeit zu. Sie bietet mancherlei Eindrücke, aber nur wenig Reibeflächen, um an sie heran-, geschweige denn hineinzukommen. So erzählte Kurzeck, nie Ärger mit seinen Dorfmitbewohnern bekommen zu haben, obwohl er keinen Namen geändert hatte. Klar, wer nur beschreibt, mischt sich nicht ein. Die Frage war hier also nur, ob das Interesse eines Autors notwendigerweise das Interesse des Publikums trifft. Verkürzt: „Wie viel Kohlebahnhof braucht ein Mensch?“ Manche weniger als eine Stunde bis zur hinreichenden Sättigung.

Im Gespräch danach erfuhr man berührende Details zur Vertreibung der Deutschen aus dem Tschechischen nach 1946. So wurden zum Beispiel „frisch bezogene Betten“ für die Nachnutzer einer Wohnung befohlen. Die langen und strapaziösen Irrfahrten der Heimatlosen in Viehwaggons erklärte Kurzeck mit der strikten Weigerung Österreichs, deutsche Flüchtlinge aufzunehmen – wie die französische Besatzungszone in Restdeutschland übrigens auch. Aber das wird in anderen Büchern des Autors stehen, in den vergangenen oder den kommenden. Beim Erinnerungsgenie Kurzeck spielt ja Zeit keine Rolle.

Gerold Paul

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