KulTOUR: „Wilde wüste Kinderwelt“
Publizist Thomas Freitag stellte in Werder Recherchen über Kinderlieder vor
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Werder - Eigentlich sollte man ja über ungelegte Eier nicht reden, wenn aber dieselben so „hochinteressant“ sind wie Kinderlieder und andere zuhören wollen, dann schon. Die „anderen“ waren an jenem vergangenen, tiefverschneiten Mittwoch vom Heimatverein Werder, der Potsdamer Musikwissenschaftler und Publizist Thomas Freitag indes der Hahn im Korbe.
Vom unvergessenen Morgenstern-Abend im Inselhotel letztes Jahr angeregt, erbot er sich, an gleicher Stelle sein unveröffentlichtes Skript „Wilde wüste Kinderwelt – Erwachsene schreiben Lieder und Verse für Kinder“ vorzustellen. Der thematische Bogen spannt sich über fünf Dezennien von Luther bis zu Rolf Zuckowski, von Ringelnatz bis Gerhard Schöne. Weil der selbständige Autor ein heiterer Mensch ist, sind es seine 16 Porträts selbstredend auch. Gemäß des evangelischen Spruches „Wes Herz voll ist, des Mund läuft über“ redete er über Entstehungsgeschichten, über viele Männer und weniger Frauen, über ihre Motivation beim Abfassen von Neuem, zwar etwas schnell und ziemlich durcheinander, jedenfalls sympathisch. Er hat noch ein zweites Manuskript im Schubkasten – hundert Seiten Satire auf Kindermusik und Kinderlied, „Scharfe Säbel, kurze Hosen“ genannt – die er auch in Werder vorstellen möchte: „Nächstes Mal bereite ich mich vor!“
Aber so schlimm war auch dieser unvorbereitete Abend gar nicht. Von Beispielen auf der eigenen Gitarre oder per Konserve begleitet, erzählte er dolle Sachen. So stellte schon Luther in einer Tischrede fest, dass die Leute geiziger werden, wenn sie Kinder kriegen, und hielt sie an, sich mehr um sie zu kümmern. Von ihm stammt ja das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Im 18. Jahrhundert schrieb der Lübecker Jurist Overbeck das vielfach vertonte „An den Mai“ („Komm lieber Mai und mache“), doch Mozarts Version war bis heute die haltbarste. Hoffmann von Fallersleben fand beim Wandern auf deutschen Straßen neben der Nationalhymne auch „Summ, summ, summ“, „Eine kleine Geige möchte ich haben“ oder „Der Frühling hat sich eingestellt“. Richter meinte, dieser berühmte Germanist und Fuß-Gänger hätte heutzutage in dem Giessener Kollegen Vahle eine Art Doppelgänger: Auch er sammele eifrig Kinderlieder, fahre nicht einmal Auto.
Fallersleben selbst ist unvergessen, Nena singt ihn mit Freude. Unter den Damen erwähnte der Redner Paula Dehmel, Gattin des Autors Richard, Beate Lambert und Dorothee Kreusch-Jacob heutiger Tage, wo der Jahresumsatz allein aus dem Tonträgergeschäft für Kinder-Musik hundert Millionen Euro beträgt. Leitspruch: „Was Kinder hören sollen, muss zuerst der Oma gefallen“.
Berge von Material sind noch zu durchleuchten – Eierberge, um im schiefen Bild zu bleiben, aber der eloquente Golmer wusste von allem gut zu erzählen: Dass Reinhard Lakomy lieber Jazzer als Kinderlied-Autor genannt werden mag, Gerhard Schöne indes gern ein solcher sei, dass Gesang heute unvermittelt mit Tempo zu tun habe: Je rascher Thomas Richter einst mit dem Rade fuhr, um so freier sang seine kleine Tochter vor ihm im Korbe. Singen ist einfach schön. g. p.
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