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Potsdam-Mittelmark: Wohin die Reise geht

Das Koffermännchen in Werder ist mal wieder weg – eine Spurensuche in der Vergangenheit

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Werder - Der Anblick ist so selbstverständlich geworden, dass er Einheimischen gar nicht mehr auffällt. Nur wenn der Lack mal wieder ab ist und das Koffermännchen vom Plantagenplatz verschwindet, häufen sich die Anrufe in der Stadtverwaltung: Wo ist er hin, der Herr in Anzug und Schlapphut? Ist er gestohlen? Oder hat er sich selbstständig gemacht, ist endlich am Ziel seiner langen Wanderschaft angekommen, am Bahnhof? Aber da ist er auch nicht

Als Roland Haeßler das zuwendungsbedürftige Artefakt vor ein paar Tagen im Rathaus abholte, war er mit dem Koffermännchen schon fast draußen. Da kam eine Beamtin hinterher und fragte ihn nach seiner Legitimation. Malermeister Haeßler ist kein Entführer oder Kunsträuber. Seine Firma, der Malerbetrieb Protz – nicht weniger traditionsreich als der hölzerne Reisende – hat die Patenschaft über das Koffermännchen übernommen, Haeßler restauriert es unentgeltlich. Ehrensache für einen Betrieb, der in der Eisenbahnstraße ansässig ist.

Damit ist er nicht der erste: Offenbar gereicht es jedem Werderaner zur Ehre, den aus drei Kiefernbohlen verklebten und zurechtgeschnitzten Reisenden in Pflege zu nehmen, wenn ihm die beiden Koffer wieder zu schwer werden: Seit der Wende war das Koffermännchen schon dreimal beim Möbelrestaurator Edgar Ehmke – übrigens auch in der Eisenbahnstraße ansässig – in Behandlung.

In den DDR-Jahren soll ein Busfahrer das Schnitzwerk gepflegt haben, der über dem City-Café wohnte und auch bei der Feuerwehr sein Faible fürs Ehrenamt bewies. Beim Blick aus dem Fenster muss ihm der Zustand des Männeken ins Auge gefallen sein, zu dessen Füßen eine Lokomotive mit vier Passagierwaggons qualmt. Bei der Platzsanierung vor vier Jahren ist das Koffermännchen mit großen Schritten von der früheren Verkehrsinsel in Kreuzungsmitte an den Rand des Plantagenplatzes marschiert. Um an die Geschichte anzuknüpfen, wurde nebenan wieder eine Rotbuche gepflanzt, sie will noch nicht so recht Schatten spenden.

Das ist schon fast alles, was sich über das Koffermännchen heute in Erfahrung bringen lässt. Im Stadtarchiv sind drei wenig aussagefähige Zeitungsnotizen das Einzige, was zum Eilenden zu finden ist. Auch der eloquente Chef des Heimatvereins, Baldur Martin, muss passen. Alte Werderaner, mit denen sich Möbelrestaurator Ehmke unterhalten hat, wollen sich erinnern, dass das wegweisende Kunstwerk Ende der 20er Jahre aufgestellt wurde. Andere meinen, es sei erst in den 50er Jahren gewesen. Der Urheber lässt sich jedenfalls nicht mehr feststellen.

In den letzten DDR-Jahren, in denen jedem fallenden Laubblatt politische Bedeutung zuteil wurde, bekam auch das Koffermännchen einen Sonderstatus zuerkannt: Die kunstfertige Szene passte einfach zu gut zur steigenden Zahl der Republikflüchtlinge. Lustige Werderaner tauften ihn von „Der Reisende“ in „Der Flüchtende“ um – der letzte Einheimische, der die Koffer gepackt hat, um über Ungarn zu türmen. Heutzutage muss der Kiefern-Herr für den Karnevalsverein herhalten. Büttenredner Rainer Zube erklärt in entsprechender Kostümierung, wer jetzt besser seine Koffer packen sollte.

An der Sonnen-zugewandten Seite des Reliefs gibt es wieder schlimme Verwitterungen. Restaurator Ehmke hat schon mal eine Schablone gefertigt – bei akuten Auflösungeserscheinungen könnte er den hastigen Anzugträger nachfertigen. Aber ganz so hinfällig sieht er noch nicht aus: Malermeister Haeßler will die Figur bis zum Baumblütenfest wieder hergerichtet haben – mit Schleifpapier, Spezialkitt, Imprägnierung und frischer Farbe. Und dann, sagt Haeßler, können die Werderaner wieder ruhig schlafen.

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